023 - Der grüne Bogenschütze
mächtigen Eichenbalken hinauf, der unter dem Dach der Burgkapelle in den Hof hinausragte. In halber Höhe darunter gab es eine Öffnung in der Mauer; durch dieses Loch hatte man in vergangenen Zeiten Menschen gestoßen, denen zuvor ein oben am Galgenbalken befestigter Hanfstrick um den Hals gebunden worden war. So ging man damals mit Leuten um, die sich auflehnten oder gegen Verbote verstießen. Auch der grüne Bogenschütze, der in den Forsten seines Herrn gewildert hatte, endete an diesem Galgen.
Am Abend seiner Rückkehr von London saß Abel Bellamy vor dem großen Kamin in der Bibliothek und schaute ins Holzfeuer, das lebhaft knisterte und sprühte. Es war ein schöner Raum, Holzpaneele schmückten die Wände vom Boden bis zur Decke, blaue Samtvorhänge hingen vor den tiefen Nischen der Fenster.
Es war schon spät. Bellamy konnte sich immer noch nicht von seinem bequemen Armsessel trennen, aber schließlich erhob er sich doch, schloß die Tür auf und klingelte. Gleich danach erschien Savini.
»Nehmen Sie alle Briefe dort auf dem Tisch, setzen Sie die Antworten auf und legen Sie sie mir morgen vor. - Ich bleibe den ganzen nächsten Monat hier - wenn Sie einmal Urlaub haben wollen, dann sagen Sie es mir besser gleich.«
»Am Mittwoch habe ich eine Verabredung.«
Der Alte knurrte irgend etwas.
»Nun gut, Sie können am Mittwoch gehen.« Als Julius schon wieder an der Tür war, rief er ihn noch einmal zurück. »Savini, Sie fragten mich neulich, ob ich ein Testament gemacht hätte.«
»Mein Gott, ich dachte mir nichts Böses dabei«, erwiderte Savini rasch. »Als Ihr Privatsekretär muß ich mich schließlich um Ihre Angelegenheiten kümmern.«
»Ja, das sagte ich mir zuerst auch. Inzwischen habe ich es mir allerdings überlegt und bin zur Überzeugung gekommen, daß Sie nicht der Mann sind, der eine solche Frage ohne bestimmte Absicht stellt. - Gut, Sie können gehen.«
Als er wieder allein war, lief Bellamy unruhig auf und ab. Er hatte ein unsicheres Gefühl, das er sich nicht erklären konnte. Mit einem seltsam geformten Schlüssel öffnete er eine der Schreibtischschubladen. Obenauf lag eine Ledermappe, die er aufklappte und auf den Tisch legte. Er nahm die Fotografie einer Frau in die Hand. Die altmodischen Kleider auf dem Bild mochten vor etwa zwanzig Jahren modern gewesen sein. Das Gesicht sah jung und hübsch aus. Die dunklen Augen schienen ihn anzublicken. Bellamy preßte die Lippen aufeinander.
»Du bist eine Närrin«, murmelte er nach einer Weile. »Du bist hübsch, aber verrückt. Du hast nicht den geringsten Verstand.«
Er legte das Bild weg und nahm eine zweite Fotografie auf, die eines dreißig- bis vierzigjährigen Mannes.
»Auch ein Narr - ja, du warst immer einer, Mike!«
Eine dritte Fotografie zeigte ein kleines Kind. Auf der Rückseite war ein Zeitungsausschnitt aufgeklebt. Die kurze Notiz lautete:
›Leutnant J. D. Bellamy, Angehöriger der Armee der Vereinigten Staaten. Der genannte Offizier wurde bei einem Luftkampf ungefähr am 14. Mai 1918 getötet.‹
Er legte auch diese Fotografie in die Mappe zurück, als er etwas entdeckte. Asche - Zigarettenasche! Bellamy rauchte nie Zigaretten, aber er wußte, daß Savini es tat. Er wollte schon klingeln, unterließ es aber doch. Daß ein Mann wie Savini, dessen Charakter er kannte, in seinen Privatsachen herumschnüffeln würde, damit hätte er rechnen müssen. Bevor er an diesem Abend die Bibliothek verließ, schloß er die Ledermappe in den hinter einem Eichenpaneel eingebauten Wandtresor ein.
Julius, der in einem Zimmer auf der andern Seite der Eingangshalle arbeitete, sah durch die offenstehende Tür, wie sein Herr herauskam und das Licht in der Bibliothek ausdrehte.
Bellamys großes, düsteres Schlafzimmer war nur spärlich möbliert. Der einzige Zugang war durch zwei Türen gesichert, eine äußere, schwere aus Eichenholz und eine innere, die mit Leder überzogen war. Bellamy verschloß wie jeden Abend die äußere wie auch die innere Tür und kleidete sich aus. Bevor er sich ins Bett legte, holte er einen langen, dünnen Schlüssel aus der Tasche, den er unter dem Kopfkissen versteckte.
Er fiel sofort in einen leichten, gesunden Schlaf, aus dem er drei Stunden später plötzlich erwachte. Es war eine mondhelle Nacht mit fast wolkenlosem Himmel, und da die Vorhänge nachts nie gezogen wurden, war es ziemlich hell im Zimmer. Er konnte deutlich erkennen, wie die Ledertür langsam und geräuschlos aufschwang.
Bellamy wartete
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