023 - Reise ohne Wiederkehr
man bedachte, dass er vor wenigen Tagen noch ein geprügelter Sklave gewesen war, hatte er regelrecht Karriere gemacht: Er trug warme Beinkleider, ein warmes Wams, einen roten Mantel, der ihm bis zu den Knien fiel und eine Mütze gleicher Farbe, deren Troddel ihn als Persönlichen Wachmann auszeichneten. Dass er eine Respektsperson war, zeigten ihm die Blicke der Matrosen, die ihm stets Platz machten, wenn er kam. Sogar die Offiziere der Krahac sprachen zu ihm, als sei er ihnen eine Art Bruder.
Trotzdem: Die Freiheit war dies nicht! Auf diesem Schiff fügte sich Pieroo in sein Schicksal, aber zurück an Land würde ihn nichts mehr halten, das schwor er sich. Vor allem würde er sich nicht zum Kriegsknecht eines so unerbittlichen Herrn machen lassen. Was nutzte der beste Posten, wenn man mit einem Bein im Grab stand?
Als Pieroo die Tür zur Messe erreichte und sein Blick auf die dunkel am Himmel dräuenden Wolken fiel, die sich gerade anschickten, die bleiche Sonne zu verdecken, hörte er jemanden sagen: »Der Alte is 'n Tier… Ich frag mich, ob's 'n Fehler war, hier anzuheuern…«
»Mir hat er 'ne Beförderung geschenkt«, erwiderte eine Stimme, die nur Schlitzer gehören konnte. »Deswegen kann's mir nur Recht sein.«
»Ich hab' ihn schon mal in Eyland getroffen«, sagte ein anderer. »Man sagt, er ist reich, sehr reich. Er kennt Fürsten und Könige. Angeblich versteht er es sogar, Bücher zu lesen. Aber auf seinem Kastell werden zügellose Feste gefeiert, bei denen nackte Jungfern auf dem Tisch tanzen…«
»Oho!«, sagte Schlitzer. »Er ist wirklich 'n Mann von Kultur!« Er lachte meckernd.
»Außerdem hab' ich das Gefühl, dass die Leute, die sich über so was empören, nur neidisch sind, weil sie nicht eingeladen werden.« Gelächter. Das Gespräch wurde leiser und vom Pfeifen des Windes überdeckt.
Pieroo fragte sich, ob es möglich war, dass ein Mensch von hoher Kultur zwei Gesichter haben konnte.
Er hatte in seinem Leben nur drei Arten von Menschen getroffen: Jene, die brav ihren Acker bestellten und sich um die Belange ihrer Sippe kümmerten. Jene, die die Macht nicht interessierte und deren Gelehrsamkeit dem Fortschritt diente. Und jene, deren Tücke sich schon in ihren Gesichtszügen zeigte.
Er hatte Delleray bisher für einen Angehörigen der zweiten Kategorie gehalten. Doch nach dem, was er heute gesehen hatte, war sein Herr ein eiskalter Schurke, nur nach außen hin gelehrt, doch innerlich auf den eigenen Vorteil bedacht. Der Mord an dem Ersten Lytnant und die anschließenden Worte Dellerays hatten Pieroo verdeutlicht, dass sein Herr nur Verachtung für die Menschen empfand.
Es geht nicht nur um die Frage, was ich nach dieser Reise mache, dachte er mit einem leisen Seufzer, sondern ich sollte mir auch Gedanken machen, wie ich überhaupt lebend am Ziel ankomme…
***
Für die Besatzung der Santanna war dieser Tag der bisher schönste der Reise. Die Sonne lachte vom Himmel herab und das Meer war glatt wie Beton, sodass das Schiff unter geblähten Segeln leicht und ohne Schlingern wie auf Schienen dahin glitt.
Der Einzige, der trotz des schönen Wetters nur gedämpften Optimismus verspürte, war Commander Matthew Drax.. Ihm schmerzten nach der mörderischen Rauferei mit Clegg nicht nur alle Knochen im Leibe, sondern er wurde auch noch von einem halben Dutzend unsensibler Muskelprotze wie ein Sack Kartoffeln - beziehungsweise Tofanen - an allen vieren über die Decksplanken geschleift.
Obwohl er sich gegen die grobe Behandlung wehrte und nichts ungetan ließ, um sein reines Gewissen verbal zu artikulieren, hatte keiner der Grobiane - Tuman an der Spitze - ein Ohr für ihn.
Für die Seeleute war die Sache glasklar: Man hatte den Nichtsnutz auf frischer Tat neben der Leiche des angesehenen Seemannes Clegg ertappt.
Und da unter den Matrosen des sechsundzwanzigsten Jahrhunderts ähnliche Gesetze herrschten wie unter denen des sechzehnten, wusste jede brave und wudangläubige Seele an Bord, was nun zu tun war.
»An die höchste Rah mit dem Hundsfott!«, kreischte eine picklige Gestalt namens Ruley, deren schiefe Zähne und nach innen gekreuzter Blick Matt Schauer des Entsetzens über den Rücken jagten. Natürlich konnte er Ruley nicht leiden; erstens wegen seiner rohen und unüberlegten Äußerungen, und zweitens, weil er die unangenehme Angewohnheit hatte, sein lückenhaftes Gebiss nach dem Dinner mit einem Messer zu reinigen, das so lang wie sein Unterarm und so schartig wie die Küste von
Weitere Kostenlose Bücher