024 - Die Rattenkönigin
bei einem epileptischen Anfall zuckend, taumelte er durch die Höhle; ein Ertrinkender, der nach einem Strohhalm sucht; ein von Ekel und Abscheu Geschüttelter, der dem Entsetzen entfliehen will. Aber er fand keinen Ausweg. Das Abscheuliche war überall, in Gestalt Hunderter außer Rand und Band geratener Ratten, in Form von grinsenden Totenschädeln – und Jenny: das Häßlichste und Abstoßendste!
Anselm van Riems wimmerte. Hinter ihm erhob sich Jenny vom Lager. Eine gallertartige Masse quoll aus ihren Augenwinkeln, Tränen der Rattenkönigin? Sie streckte begehrend die Arme nach Anselm aus. Dieser wich taumelnd und immer wieder unmenschliche Klagelaute ausstoßend vor ihr zurück.
Das schien die Ratten in Rage zu bringen. Chapman entging nicht, wie sie immer unruhiger wurden. Einige sprangen an van Riems hoch und bissen ihn, aber Chapman schenkte dem im Augenblick keine Aufmerksamkeit. Etwas anderes fesselte seinen Blick. Er sah durch das Stroh von Jennys Lager etwas Goldenes schimmern und erkannte die Form eines Drudenfußes mit einem Durchmesser von annähernd einem Meter.
Der Goldene Drudenfuß!
Chapman wollte näher an das Lager, doch die Ratten verstellten ihm den Weg. Er sah ihre aufgerissenen Rachen. Eine duckte sich und sprang. Chapman brachte sich hinter einem Totenschädel in Sicherheit. Ein Rattenschwanz durchschnitt pfeifend die Luft und peitschte seinen Rücken.
Anselm stand jetzt mitten in der Höhle. Immer mehr Ratten sprangen an ihm hoch und schnappten nach ihm. Er hatte bereits blutige Hände. Doch er schien den Schmerz gar nicht zu spüren. Seine vor Entsetzen geweiteten Augen waren auf Ratten-Jenny gerichtet, die sich ihm näherte. Er wich rückwärtsgehend vor ihr zurück.
Zwei, drei Ratten waren an ihm hochgeklettert. Sie wollten sich an Anselm rächen, der ihrer Königin eine solche Schmach angetan hatte. Doch als die Ratten seinen Hals erreicht hatten und zum tödlichen Biß ansetzen wollten, gab Jenny einige Pfeiflaute von sich, und die Ratten erstarrten.
»Nicht töten! Laßt meinen Geliebten am Leben!« kam es über ihre zitternden Lippen.
Anselm schrie auf, als er das hörte. Die Ratten wollten daraufhin wieder nach seiner Kehle schnappen, doch Jenny gab abermals diese Pfeiflaute von sich, die den Ratten Einhalt geboten. Das verschaffte auch Chapman eine Atempause. Er setzte mit einem mächtigen Sprung über die Ratten hinweg und lief auf Anselm zu.
»Geh!« sagte Jenny gerade zu ihm. »Ich gebe dich frei. Ich will dich noch nicht töten. Ich muß allein sein.«
Anselm wirbelte herum. Chapman hatte ihn schon fast erreicht, als wieder Bewegung in die Ratten kam. Sie schnappten nach Anselms nackten Füßen, zerrten an seinem Mantel. Anselm stürzte davon. Chapman wollte ihm folgen, aber da baute sich eine Ratte vor ihm auf, die doppelt so groß wie eine Katze war. Chapman zielte kurz mit der Waffe und drückte ab. Zwischen den Augen der Ratte entstand ein Loch. Der Weg war frei. Chapman kam mit zwei gewaltigen Sätzen an Anselm heran. Mit einem dritten sprang er an ihm hoch und bekam eine Manteltasche zu fassen, in die er sich hineinfallen ließ.
Völlig erschöpft blieb er in der Manteltasche liegen. Hier war er in Sicherheit. Er wurde zwar in seinem Versteck ganz schön durchgeschüttelt, denn Anselm van Riems rannte, was seine Beine hergaben, aber er war den Ratten entkommen, und nur das zählte.
Als er sich einigermaßen erholt hatte und wieder bei Kräften war, lugte er aus seinem Versteck. Sie hatten das Reich der Rattenkönigin verlassen. Anselm van Riems lief immer noch, obwohl die Ratten nicht mehr hinter ihm her waren. Er befand sich in einer menschenleeren Straße. Seine Schritte hallten dumpf durch die Nacht. Er war barfuß. Zwischen den rasselnden Atemzügen gab er immer noch die weinerlich klingenden Klagelaute von sich. Anselm war völlig durchgedreht. Chapman hoffte nur, daß er nicht den Verstand verloren hatte, aber vielleicht war er mit einem Schock davongekommen.
Vor ihnen tauchten die Lichter von Scheinwerfern auf. Der Wagen steuerte genau auf Anselm zu, der in der Mitte der Straße lief.
»Anhalten!« murmelte Anselm erschöpft vor sich hin. Und immer wieder: »Anhalten, anhalten …« Er warf die Arme in die Luft.
Die Autoscheinwerfer kamen näher.
Chapman kletterte aus der Manteltasche und sprang in die Tiefe. Er ließ sich in den Rinnstein rollen. Hinter ihm bremste quietschend der Wagen.
»Wohl verrückt geworden!« schimpfte jemand.
Anselm
Weitere Kostenlose Bücher