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024 - Lebendig begraben

024 - Lebendig begraben

Titel: 024 - Lebendig begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Walker
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kaum Freunde, dafür viele flüchtige Bekannte, die angeblich hinter meinem Rücken kein gutes Haar an mir ließen. Ich erfuhr auch, warum. Millie rückte nur ungern damit heraus, aber die Tatsache, dass ich mich so stark verändert hatte und offenbar ein neues Leben lebte und von meinen alten Gepflogenheiten nichts mehr wusste, schien sie dazu bewogen zu haben.
    Sie gab mir ein kleines Notizbuch, das sie vor einem guten Jahr aus einem meiner Anzüge genommen hatte. Es enthielt eine Menge Aufzeichnungen in meiner Handschrift.
    Ich wurde sehr nachdenklich als ich es durchblätterte und die Notizen überflog. Sie hatten alle etwas gemeinsam: sie waren schlimmster, schmutzigster Klatsch.
    Frau Gerlich vor acht Jahren Verhältnis im Bergen-Hotel. Jochen Beir (Liftboy) könnte mehr wissen! Minderjährige Annie Felmer (Nordstraße) kennt Steuerberater Mierke intim!!
    Franz Biegler war am 8. 4. nachmittags im Hohenheimerwald – nur zehn Minuten vom Tatort des Mordes an der kleinen Elfie Bauer entfernt!!!
    Kinder dreier Familien erkrankt. Überall war Kathie Hormer als Babysitter. Auch bei den Greinmanns nachprüfen.
    Und so weiter. Und so weiter. Ich verbrachte einen ganzen Nachmittag damit, die Notizen zu studieren. Und langsam wurde mir klar, dass an Franziskas Worten vielleicht doch etwas Wahres sein mochte. Wozu sollte ich mir sonst diese Dinge notiert haben, wenn nicht dazu, sie auch zu verwenden? Und diese gewissenhaft zusammengetragenen Gerüchte an die richtigen Leute gebracht, mochten verheerende Folgen zeitigen.
    Der Zwang zum Bösen. Hier war er. Kein Mensch mit einer Spur von Gewissen konnte sein Vergnügen daran haben, die Menschen gegeneinander auszuspielen. Man mochte es einmal tun oder zweimal, wenn man sich einen Vorteil erhoffte – irgendetwas, das diese perverse Mühe lohnte; aber das hier sah so aus, als hätte ich es als Hauptbeschäftigung betrieben. Ich spürte ein leises Grauen bei dem Gedanken, gleichzeitig aber auch einen Anflug von Hohn – angesichts der erbärmlichen Dinge, die die Menschen voreinander zu verbergen trachteten.
    Die Adressen und Namen bedeuteten mir nun nichts mehr, da ich nichts mehr von den Zusammenhängen wusste. Aber es schien mir plötzlich gefährlich, sie aufzubewahren. Ich hatte Angst vor mir selbst. Und das verstärkte sich durch den unsicheren Blick, mit dem mich Millie musterte. Sie schien zu merken, was in mir vorging.
    „Du gibst es mir doch zurück, nicht wahr?“
    Ich wollte es ihr schon geben, aber dann besann ich mich anders. Es war kein gutes Stück Vergangenheit, das aufzubewahren lohnte. Ich konnte ebenso gut aufräumen damit – so gründlich es ging.
    Ich griff nach dem Feuerzeug auf dem Schreibtisch und hielt das Büchlein über dem Aschenbecher in die Flamme. Es verbrannte mit viel Rauch. Ich hielt es, bis die Flamme um meine Finger züngelte.
    Das Zimmer war voller Qualm und Gestank. Es war erleichternd, zu sehen, wie das mit so viel Gemeinheit besudelte Papier verkohlte. Es gab einen Augenblick, da spürte ich einen Impuls, die Vernichtung aufzuhalten, aber ich kämpfte gegen diesen Impuls an. Danach war ich befreit, aber sehr unsicher. Würde dieses neue Leben den gleichen Verlauf nehmen wie das vorige? Es schien mir beinahe so, als wäre ich wiedergeboren worden. Ein seltsames Gefühl – vor allem deshalb, weil ich ja keine Erinnerung besaß, und doch die Realität voller Spuren meines einstigen Lebens war.
    „Wirst du allein zurechtkommen?“ fragte ich Millie.
    „Ja, Gerrie. Mach dir keine Sorgen!“
    Sie musterte mich müde und lächelte verzerrt. Ihr Gesicht erschien plötzlich faltiger und älter, erfüllt von jener Resignation vor dem Alter, das kam, egal, ob man schritt oder lief oder wie ein Fels stand. Ich, der ich selbst noch vor wenigen Tagen ein alter Mann gewesen war, fühlte nun das Bedauern und Mitleid, und ich wusste, dass wir uns trennen mussten. Sie wusste es ebenfalls und verstand es, obwohl es für sie noch unverständlicher sein musste, denn sie hatte ja nichts vergessen. In ihr war alles lebendig. Aber Frauen von Fünfzig, die sich über Nacht mit jungen Männern verheiratet sehen, haben auch ihre Probleme – noch dazu, wenn diese aus Särgen steigen.
    Wir machten uns beide nichts vor. Sie gab mich frei, und ich dankte es ihr, indem ich ging. Es war auch höchste Eile, denn noch am selben Tag rief mich Franziska an. Ihr Vater war zurückgekehrt.
    Ich beschloss, bis zum Abend zu warten, und machte mich für die Reise bereit.

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