024 - Lebendig begraben
wünschte mich dorthin. Zwar würde dort sicher niemand einen Rechtsanwalt brauchen können, aber ich würde wahrscheinlich Zeit haben, über alles nachzudenken.
Zwei Männer unterhielten sich am Nebentisch über einen dritten Mann. Dabei kamen einige recht interessante Dinge zur Sprache – intimer und beruflicher Natur – deren Verbreitung ausgereicht hätte, ihn zu ruinieren. Er besaß zudem eine Tochter, die hinter seinem Rücken ein recht flottes Leben führte. Der Mann schien ein jähzorniger Typ zu sein, und ich stellte mir vor, was er wohl im ersten Wutanfall mit ihr anstellen würde, wenn man ihm die Abwege seiner Tochter unter die Nase rieb.
Ich ertappte mich dabei, wie ich mir Namen und Einzelheiten einzuprägen versuchte, und mir lief es kalt über den Rücken. Es war etwas Wahres an Franziskas Worten – und an Millies.
Die Vergangenheit war in mir, auch wenn ich sie vergessen hatte. Ich konnte ihr nicht davonlaufen. Aber ich musste dennoch fort. Irgendwohin, wo ich mich allein mit ihr beschäftigen konnte, wo ich Zeit genug hatte, mit ihr fertig zu werden.
Als ich aufblickte, sah ich Franziskas Gesicht durch die Scheibe der Restauranttür. Ich winkte ihr erfreut. Sie bemerkte mich erleichtert und kam an meinen Tisch.
„Ich bin – so – froh“, stammelte sie, dass ich dich noch – gefunden habe. Ich – hatte solche Angst, du könntest schon fort sein. Wo – wohin fährst du?“
„Mit dem Zug kurz nach neun.“ „Wohin?“
„Ich weiß es noch nicht.“ Ich hob die Schultern. „Ich werde irgendwo aussteigen.“ Ich griff nach ihrer Hand. „Ich bin auch froh, dass du noch gekommen bist.“
Sie lächelte. „Das lob ich mir, Partner. Gehen wir zum Zug?“
Wir gingen auf den Bahnsteig und hatten einen intensiven Abschied. Sie erwiderte meine Küsse genauso hungrig, wie ich sie gab, doch gerade, als ich mir ernsthaft überlegte, ob ich nicht doch lieber bleiben sollte, riss sie sich los und lief weg, ohne sich um mein Rufen zu kümmern. Ich wollte ihr nach. In diesem Augenblick kam jedoch ein Bahnbeamter vorbei und schloss die Türen.
Ich stieg ein; vielleicht weil sich der Gedanke, mit allem zu brechen, bereits zu sehr in mir festgesetzt hatte. Ich suchte mir einen Platz und bekämpfte meine Unsicherheit und den Wunsch, einfach wieder auszusteigen. Dann rollte der Zug an und nahm mir die Entscheidung ab. Doch ich fühlte keine Erleichterung darüber.
Der Schaffner kam. Hinter ihm, mit einem Gesicht voller Entschlossenheit, tauchte Franziska auf.
Ich starrte sie erstaunt an. Sie war bleich, aber sie hielt eine Fahrkarte in der verkrampften Faust. Ich fühlte, dass ich sehr froh war, sie zu sehen.
Sie blieb neben mir stehen, setzte sich aber seltsamerweise nicht, obwohl der Platz neben mir frei war.
„Du musst bei der nächsten Station aussteigen, Gerrie“, flüsterte sie.
Ich schüttelte den Kopf. „Das ist zu früh.“
„Später wird es zu spät sein. Vater ist im Zug.“ Ich erstarrte. „Wie ist das möglich?“ „Ich weiß es nicht. Er muss mich beobachtet haben und mir gefolgt sein.“
„Wusste er denn, dass du mich kennst und mit mir in Verbindung …“
„Nicht von mir“, unterbrach sie mich rasch, „aber er muss es irgendwie in Erfahrung gebracht haben.“
„Wo ist er?“
„Ganz hinten im Zug.“
„Allein?“
„Ich glaube nicht. Er hat sich mit jemandem unterhalten. Das muss nichts bedeuten …“
„Wenn er zwei Männer angeworben hat, die mich erledigen sollen“, erwiderte ich gepresst, „dann hat er sich auch nicht auf dem Bahnsteig zurückgelassen. Das ist ziemlich sicher.“
Franziska sah mich unglücklich an. „Gerrie, bitte, steig aus! Hier in den Vororten steigen noch viele Leute ein und aus. Du kannst im Gedränge untertauchen. Wenn wir erst in einem kleinen fremden Ort sind, haben sie ein leichtes Spiel.“
„Es ist überall gleich leicht, solange ich sein Gesicht nicht gesehen habe.“
Ich wusste, dass ich mich damit in ihre Hand gab, aber es war auch die beste Gelegenheit, herauszufinden, ob sie es wirklich ehrlich mit mir meinte. Ich musste wissen, wie Geissler aussah. Ich konnte nicht ständig vor jemandem weglaufen, an den ich mich nicht mehr erinnerte. Ich hätte mir schon vor Tagen von Franziska ein Foto zeigen lassen sollen; aber ich hatte ihr misstraut, wie ich jedermann misstraute, Ich wusste, dass Unvorsichtigkeit mich leicht wieder in den Sarg zurückbefördern konnte.
„Sein Gesicht?“ fragte sie verständnislos.
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