024 - Lebendig begraben
ausweichend, wenn ich die Sprache darauf brachte; und ihre ausweichenden Antworten waren sehr unbefriedigend. Denn ich erinnerte mich deutlich daran, dass Wagner mir die Kehle durchgeschnitten hatte. Dennoch hatte ich nicht die geringste Narbe am Hals. Auch nicht die geringsten Narben von Einstichen. Nichts. Ich war glatt und narbenlos wie ein Neugeborenes.
Ich grübelte oft darüber nach. Ein paar Tage später feierten wir Franziskas achtzehnten Geburtstag. Es sollte nur noch ein oder zwei Wochen dauern, bis die Erbschaftsangelegenheiten erledigt waren. Dann hielt sie nichts mehr hier in der Stadt. Wir konnten fortgehen. Und wir würden zusammen fortgehen.
In diesen Tagen machte ich eine beunruhigende Entdeckung. Ich fing an, Dinge zu vergessen. Ich musste in meinen Aufzeichnungen nachschlagen, aber selbst dann blieb die Erinnerung daran aus. Es beängstigte mich. Ich musste endlich die Wahrheit wissen. Manchmal ertappte ich mich bei dem Gedanken, Franziska wollte mich glauben machen, mein Alptraum wäre die Wahrheit gewesen. Sie wusste ja, dass ich an Amnesie litt. Aber ich liebte sie zu sehr, um den Gedanken weiterzuverfolgen. Es war mir gleichgültig, ob sie es tat, und aus welchem Grund auch immer. Aber ich musste die Wahrheit wissen.
Sie wurde blass, als ich davon anfing.
„Ich dachte“, sagte sie leise, „unsere Liebe würde …“ Sie brach ab.
„Was würde sie, Franziska?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Daran kann es nicht liegen“, murmelte sie. „Meine Liebe müsste stark genug sein, dich zu beschützen, wenn die alten Gesetze wahr sind.“
„Welche alten Gesetze? Wovon sprichst du, Franziska?“
Sie blickte mich traurig an. „Verzeih mir, Gerrie. Ich war so eingebildet, dass ich dachte …“ Sie stockte. „Ich hoffte, dass alles nun vielleicht vorüber sei. Aber es ist wohl doch nicht so einfach.“
„Willst du mir nicht endlich erklären, wovon du redest?“
Sie nickte hastig. „Ja. Ja, Gerrie. Du wirst stark sein müssen.“
„Es kann nicht schlimmer sein als Forchting“, stellte ich fest.
„Ich denke schon“, meinte sie und erhob sich.
Sie verließ den Raum und kam gleich mit einer kleinen Schachtel und einem kleinen Diapositivbetrachter zurück. Sie öffnete die Schachtel und betrachtete das erste Bild. Ihr Gesicht war bleich, als sie mich ansah.
„Diese zwölf Bilder“, erklärte sie mit zittriger Stimme, „habe ich während der ersten sechs Tage aufgenommen, die du hier warst. Das erste gleich am Morgen, als ich dich herbrachte.“
Sie zögerte immer noch, aber dann reichte sie mir mit einem entschlossenen Ruck die Schachtel und das Gerät.
Ich war verdammt gespannt, was das Geheimnisvolles sein mochte. Fasziniert starrte ich auf die nackte männliche Gestalt auf einem Bett. Der Mann schlief oder war vielleicht sogar tot, den erstarrten Zügen nach zu schließen. Der ganze Körper war mit Wunden übersät und mit geronnenem Blut bedeckt. Der Kehlkopf klaffte weit offen.
Dann war es also doch kein Traum gewesen, sondern Realität. Aufregung befiel mich. Mit zittrigen Fingern nahm ich das nächste Bild in die Hand. Diesmal war mein Körper sauber gewaschen. Man sah die Einstiche als dunkle Punkte. Seltsamerweise war das Fleisch nicht geschwollen, wie es bei Verletzungen üblich ist. Mein ganzer Körper hätte eine einzige Geschwulst sein müssen, rot und aufgequollen; stattdessen lag ich wächsern bleich da. Der dunkle Strich an der Kehle war ein breiter, grinsender Mund.
Schaudernd sah ich auf, und mir dämmerte die einzigartige Aussage, die dieses Bild zu machen schien.
„Ich war …“ begann ich mit krächzender Stimme und setzte erneut an. „Ich war – tot?“
Sie nickte stumm.
Als ich sie ungläubig anstarrte, erklärte sie: „Du warst bereits tot, als ich dich in den Wagen legte.“
„Aber warum hast du …“
„Sieh sie dir erst alle an!“ unterbrach sie meine Frage.
Die Bilder des zweiten und dritten Tages ließen keinen Zweifel darüber, dass der Mann auf dem Bett eine Leiche war. Die Wunden faulten. Der Prozess der Verwesung war eingeleitet. Leichenflecke waren sichtbar. Am vierten Tag aber schien eine seltsame Verwandlung zu beginnen. Die Flecken verschwanden wieder, und die Wunden schlössen sich. Am Morgen des fünften Tages waren sie kaum noch zu sehen. Der Körper hatte die ’kränkliche Totenfarbe verloren. Die Haut war jetzt weiß. Das Bild des Abends zeigte einen makellosen Körper.
Und am nächsten Tag war ich erwacht!
„Kein
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