0249 - Die Stunde der Bestien
nahm den linken und sah mich bedeutungsvoll an.
Ich sah mich rasch um. Mein Blick streifte die schimmernden Nägel im Heu, den offen daliegenden Ring mit dem Schloss, die Fußspur. Und ich verstand.
»Wir brauchen Gips«, sagte ich.
»Schon da«, meinte Ralley und zeigte auf die große Tüte. »Und Wasser haben wir auch.«
Er schleppte zwei volle Eimer herüber, die neben der Krippe für die Pferde standen. Nach einem besorgten Blick auf meinen Freund, der mit einem energischen Kopfschütteln beantwortet wurde, machte ich mich an die Arbeit.
Die vier Bretter wurden zu einem boden- und deckellosen Kasten zusammengestellt. Genau in der Mitte lag jetzt die Spur. Ralley rührte den Gips an, ich füllte nach und nach vorsichtig die Spur damit aus und anschließend den provisorischen Kasten. Zum Schluss setzte ich mich auf den Boden und hielt mit den Füßen zwei der Bretter. Ralley hielt die anderen beiden fest.
Ich schnipste eine Zigarette aus meiner Packung, steckte sie an und schob sie Phil zwischen die Lippen.
Er nickte dankend.
»Damit müssen wir etwas anfangen können«, murmelte er sinnend, während er mit einer Kopfbewegung auf den langsam fest werdenden Gips deutete.
»Ich verstehe zwar nicht ganz wie«, brummte Ralley, »aber es sieht so aus, als ob Sie diesen Fußabdruck für enorm wichtig halten, wie?«
Ich wollte es ihm gerade erklären, als mir noch rechtzeitig einfiel, dass ich Nick Kenton, der Assistent des Kunstschützen, und nicht Jerry Cotton, der G-man, war. Also hielt ich den Mund und überließ es Phil,,die Sache darzulegen.
Mein Freund schilderte mit ein paar knappen Worten, dass er von dem Gipsabdruck der Spur wieder einen Negativabdruck machen wollte. Und damit würde er auf die Suche nach dem Schuh gehen, der genau in die Negativspur passte.
»Aber warum erst diese umständliche Arbeit?«, wollte Ralley wissen. »Dann können Sie doch gleich den Schuh hier in den Abdruck passen.«
»Sicher«, nickte Phil. Seiner Stimme war anzuhören, dass er starke Schmerzen hatte. »Aber dieser Abdruck bleibt nicht ewig erhalten. Sobald die Erde trocken wird, bröckelt der Abdruck in sich zusammen. Unsere Gipsabdrücke aber nicht.«
Ralley wollte etwas sagen, aber in diesem Augenblick steckte Mac Entire, einer von den Arbeitern, den Kopf zum mittleren Zelt herein und rief: »Ist Mister Decker hier?«
»Ja, zum Teufel«, brüllte Ralley. »Aber er hat jetzt keine Zeit. Was ist denn los?«
»Miss Johnson schickt mich. Der Kapellmeister hat sich umgebracht . Er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.«
Es war, als ob wir alle einen Schlag mit dem Hammer bekommen hätten. Aber nicht gegen das Schlüsselbein. Gegen den Kopf.
***
»Scheren Sie sich raus, Kenton«, fuhr mich der Direktor an, als ich den Wagen des Kapellmeisters betreten wollte.
Bisher hatte ich den Unterwürfigen gespielt, wie es sich für einen Assistenten gehörte. Aber jetzt ging es nicht anders.
»Tut mir Leid, Sir«, erwiderte ich. »Mister Decker ist verletzt. Er hat mich gebeten, mich für ihn zuzusehen und ihm alles haarklein zu erzählen.«
»Mister Decker kann mich -« raunzte Johnson, behielt aber den gewichtigeren Teil des Satzes für sich und knurrte stattdessen: »Ach, zum Teufel, machen Sie schon die Tür zu.«
Ich trat also ein und zog die Tür hinter mir zu.
Der Wagen war spartanisch streng eingerichtet. Ein Feldbett, ein Tisch, ein Militärspind, eine alte Kommode, an den Wänden ein paar verblichene Fotografien.
Der Mann lag auf seinem Feldbett. Nach rechts und links hingen die Arme herab. Ein paar Sekunden betrachtete ich mir schweigend das grauenhafte Bild.
Dann tappte ich vorsichtig ans Fußende des Bettes. War dieser Selbstmord ein Geständnis? Ein Schuldbekenntnis? Ich betrachtete seine Schuhe.
Draußen hörte man das auf- und abschwellende Heulen einer Polizeisirene. Gleich darauf polterten eilige Schritte die Treppe vor dem Wohnwagen herauf. Die Tür flog auf. Ein Mann in einem weißen Kittel mit einer schwarzen Tasche in der linken Hand kam temperamentvoll hereingestürmt. Er konnte noch nicht viel älter als dreißig Jahre sein, aber an den Schläfen zeigten sich doch schon graue Fäden.
Wortlos schob er sich an uns vorbei zum Bett. Er hatte eine fast unheimliche Geschwindigkeit. Plötzlich drehte er sich um und rief über die Schulter zurück zur offen stehenden Tür: »Robby, rufen Sie das Van-der-Hook-Hospital an. Blutkonserven bereitstellen. Alle Gruppen. Und dann Tempo, Herrschaften.
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