025 - Die Treppe ins Jenseits
Lord Callaghan fünf Minuten später mit John Hawkins zusammen.
Der Besucher kam sofort zum Anlass seiner Aufwartung.
»Man erzählt sich viele merkwürdige Geschichten über das Felsenschlösschen,
Mylord«, meinte er. »Die vierzehnte Stufe ist verhext, heißt es. Auch, dass die
Besitzer des Anwesens Unheil und Gefahr in Kauf nehmen müssen. Sie werden es
heute in den Zeitungen gelesen haben, Mylord: der jetzige Besitzer, Sir Edward
Baynes, ist tödlich verunglückt.«
»Ja, ich habe es gelesen. Eine schreckliche Sache.«
»Es war ein Unfall unter recht seltsamen Umständen«, fuhr John Hawkins
fort. »Ich bearbeite den Fall. Aber mein Besuch bei Ihnen hat auch private
Gründe. Ich beobachte ein bisschen die Welt des Außersinnlichen, um es mal so
auszudrücken. Es ist gewissermaßen mein Hobby. Ich gehe solchen Dingen nach.
Okkultismus und Parapsychologie interessieren mich. Ich sehe mich in
Geisterschlössern um und fertige darüber Akten an. Ich habe schon das
Felsenschloss der Callaghans besucht und kenne die vierzehnte Stufe. Aber mir
ist nichts passiert.«
»Es muss nicht unbedingt etwas passieren, junger Mann. Waren Sie erpicht
darauf?«
»Ich war darauf gefasst, dass etwas geschehen würde. Lord Callaghan, wären
Sie bereit, mir einiges über Schloss und Treppe und vor allem über die
unheimliche Geschichte, die damit in Verbindung gebracht wird, zu erzählen?«
»Nun, da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen, Mister Hawkins. Ich
glaube, dass die Leute da ein bisschen übertreiben. Das ist wohl immer so.«
»Immerhin kann man nicht abstreiten, dass der letzte Besitzer vom Pech
verfolgt war. Es hat schlimm in der Baynes-Familie eingeschlagen.«
»Sie gehen vom Unfall aus, das ist nicht ganz richtig.« Lord Callaghan war
sehr ruhig und souverän. »Was ist schon passiert?«
»Sie kennen das Unglück, das die Familie heimgesucht hat?«
»Ja. Eine Tochter ist schwachsinnig, bei der Geburt der anderen ist die
Frau gestorben. Aber das alles sind Dinge, die passierten, bevor Edward Baynes
das Felsenschloss kaufte, Mister Hawkins! Am ehesten könnte man den Unfall mit
Eve in Betracht ziehen. Es steht außer Zweifel, dass der auf der Stufe passiert
ist. Aber es muss nicht unbedingt so sein, dass der Fluch mit dem Unfall zu tun
hat. Ich will Ihnen etwas anvertrauen, Mister Hawkins, da Sie sich schon dafür
interessieren: Der Fluch galt den Callaghans. Ich war nie sehr mutig, aber ich
war entschlossen, das Beste aus dem zu machen, was meine Vorfahren mir da an
Problemen hinterlassen hatten. Ich wollte dem unheimlichen Spuk der Lady Mara
die Stirn bieten. Innerhalb der vorangegangenen Generationen war viel passiert.
Unheil und Tod waren über die Callaghans gekommen, ohne dass es eigentlich einen
Grund dafür gab. Es sei denn, man stellte die geheimnisvolle vierzehnte Stufe
in den Mittelpunkt der Erörterung. Ich habe selbst viele Male darauf gestanden,
es ist mir nichts geschehen. Der Spuk tritt nur sporadisch auf, und keiner
vermag zu sagen, wann es wieder soweit ist und ob er überhaupt auftritt. Meine
Frau hatte immer etwas Angst, aber meine Zuversicht nahm ihr diese Angst. Das
dauerte lange.« Wehmut schwang in seiner Stimme mit. »Sie warnte mich immer,
gut aufzupassen.« Der schmerzliche Zug um seine Lippen verstärkte sich, und
Lord Randolph Callaghan war mit seinen Gedanken bei jenem Sommertag, als das
Unheil auch nach seiner Familie die Hand ausstreckte. »Es war ein wunderschöner
Sommerabend. Freunde waren zu Besuch gekommen. Das alles liegt schon ein halbes
Menschenleben zurück. Unser Sohn Philipp spielte im Garten. Wir waren sorglos.
Bisher war nichts passiert, warum sollte es gerade heute so weit sein? Aber es
passierte! Was ich nicht für möglich hielt, trat ein. Der Schrei hallt noch
heute in meinen Ohren. Ich bin sofort aufgesprungen und losgerannt. Ich
erreichte zuerst die Treppe und wollte nicht glauben, was ich sah. In der
abendlichen Dämmerung, unten auf den gischtumschäumten Felsen, lag Philipps
zerschmetterter Körper! Und auf der vierzehnten Stufe stand sie. Wie ein Spuk!«
Er schluckte, seine Augen waren in eine unwirkliche Ferne gerichtet, er lebte
in dieser Sekunde ganz in der Erinnerung. »Bleich wie der Tod, in einem
schneeweißen Gewand stand sie dort. Durch ihr wehendes Kleid sah ich das dunkle
Meer und die schäumenden Wellen. Es war eine weiße Frau. Ich sah ihr Gesicht.
Voller Hass und Ablehnung, ein finsteres, bösartiges Wesen. Nur den Bruchteil
einer Sekunde
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