025 - Die Treppe ins Jenseits
Zentimeter weiter zurück und er wäre voll unter ein paar
dicke Brocken geraten, die zu seinen Grabsteinen geworden wären.
Durch diesen Schuttberg kam er nie! Er war von der Außenwelt abgeschlossen.
John Hawkins kaute auf seinen trockenen, rissigen Lippen und riskierte es
nicht, einen Stein nach dem anderen zur Seite zu räumen – in der Hoffnung, den
Eingang freizulegen. Eine falsche Bewegung, und der Schuttberg konnte erneut
ins Rutschen kommen.
Er war zwar frei und konnte sich bewegen, aber er war eingeschlossen und
konnte die Umwelt nicht über seine Situation informieren. Blieb nur zu hoffen,
dass die Kollegen im Revier misstrauisch wurden und auf die Idee kamen, nach
dem Rechten zu sehen.
Aber da gab es noch eine andere Möglichkeit.
Plötzlich erinnerte er sich.
Im Felsenschloss würden viele Menschen sein. Wegen der Testamentseröffnung.
Der Stollen reichte bis an die Felswand, hinter der die Stufen lagen. Wenn er
gegen die Wand klopfte, dann bestand die Möglichkeit, dass er damit die
Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
Plötzlich verlosch die Taschenlampe.
John Hawkins schüttelte sie, aber das hatte keinen Zweck. Die Birne
flackerte noch mal schwach auf, und dann war es stockfinster um ihn herum.
Wütend warf er die Lampe auf den Boden. Das Glas zersplitterte.
»Nein! Nein!« wisperte da eine Stimme hinter ihm. John Hawkins' Nackenhaare
sträubten sich, und er hatte das Gefühl, als würde eine eiskalte Hand seinen
Rücken entlangfahren. »Das darfst du nicht tun! Du darfst mich nicht
einmauern!«
Der Captain warf den Kopf herum. Was er sah, ließ ihn an seinem Verstand
zweifeln und erfüllte ihn mit Grauen.
Bisher hatte er immer nur in eine Richtung geblickt. Die ganze Zeit
konzentrierte er sich auf seine Befreiung und den Schuttberg vor dem
Stolleneingang.
In der Dunkelheit sah er die beiden hellen Gestalten, und die Szene, die
sich abspielte, wirkte, als würde sie auf einer Leinwand gezeigt.
Ein Mann und eine Frau standen dort. Die Frau war an einen Pfahl gebunden,
und ihre großen Augen starrten entsetzt auf den Mann in der altmodischen
Kleidung, der sich anschickte, aus groben Steinen eine Mauer aufzurichten. Das
Werk war zur Hälfte gediehen. »Ich darf nicht?« fragte seine wispernde Stimme
höhnisch. »Vielleicht hast du recht, aber ich tue es trotzdem, weil ich es
kann.«
»Bitte, tu's nicht!« flehte sie. Das Wispern und Raunen wurde stärker. Von
allen Seiten her schienen die Stimmen zu kommen. »Mau're mich nicht ein! Albert!
Tu's nicht!«
Aus ihrem Wispern wurde ein Seufzen. Die Frau riss und zerrte an ihren
Fesseln.
John Hawkins hörte jeden Atemzug und fragte sich, ob er noch normal sei.
Das schnelle, hektische Atmen des Mannes, der sein Opfer bei lebendigem
Leib einmauerte, Stein auf Stein setzte und mit einer Lehmmischung die Fugen
verschloss, damit die enge Kammer luftdicht war, mischte sich mit den spitzen,
entsetzten Schreien der verzweifelten Frau.
Aus dem Raunen und Wispern wurden langgezogene Schreie, die dem Beobachter
bis ins Mark gingen.
Die Luft war angefüllt mit Geräuschen, Tuscheln und Kichern, es echote, als
befände sich John Hawkins in einer riesigen Felsenhalle.
Die Mauer vor der Eingeschlossenen reichte ihr bereits bis zum Hals.
»Albert, nicht! Mau're mich nicht bei lebendigem Leib ein!«
Die verzweifelte Stimme riss John Hawkins aus einer Starre, in die er
gefallen war.
Er warf sich nach vorn.
»Aufhören!« Seine Lippen zitterten. Er befand sich in einer Stimmung wie
nie zuvor in seinem Leben.
Eine Halluzination! Er wurde verrückt!
Seine Hände stachen mitten durch den Leib des Fremden. Die Gestalt löste
sich auf. Die Mauer vor John Hawkins zerbröckelte lautlos, und es regnete
Steine auf ihn herab, so dass er unwillkürlich die Arme hochriss, um seinen
Kopf zu schützen.
Aber John Hawkins fühlte diese Steine nicht.
Er durchbrach sie und fiel gegen die langhaarige, schreiende Frau.
Große, erstaunte Augen musterten ihn. Schluchzen drang aus der Kehle der
Gequälten, und schaurig klang ihre Stimme auf. »Ich verfluche dich, Albert
Benjamin Callaghan! Diese Stunde wirst du bereuen. Ich werde mich an dir und
deinen Nachkommen rächen, das prophezeie ich dir!«
Ein hässliches, langgezogenes Lachen hallte durch den Stollen und drang aus
dem Gestein wie Gift, mit dem der einsame, eingeschlossene Mensch überschüttet
wurde. »Rächen? Die Rache der Lady Mara? Hahaha.« Die Luft vibrierte unter dem
teuflischen Gelächter, das neben ihm,
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