026 - Das Totenhaus der Lady Florence
Sie suchten die
Küche auf. Auf dem Tisch lagen Speisereste und schmutziges Geschirr.
Wie unter einem Zwang nahm Beatrice Burling eine leere Camembert-Schachtel
zur Hand.
»Camembert?« flüsterte sie. »Vater isst diesen Käse doch nie. Ob er Besuch
hatte oder noch hat?« Sie kamen an die Tür zur Bibliothek. Lautlos wich sie vor
ihnen zurück. In der Bibliothek brannte Licht. Beatrice Burling atmete auf. Sie
war im ersten Augenblick überzeugt davon, dass ihr Vater sie hatte kommen sehen
und nun dieses Versteckspiel mit ihnen trieb. Richard Burling stand bestimmt
hinter der Tür und hatte sie geöffnet, doch dann sah sie, dass die Tür keine
Klinke hatte.
Drei Minuten später hatten sie die Bibliothek durchsucht. Keine
Menschenseele!
Beatrice stand vor dem Arbeitstisch in der Nische, blickte auf den
Notizblock und blätterte die Seiten durch. Die letzten trugen das Datum von
heute. Ihr Vater hatte also noch geschrieben. Beatrice ahnte nicht, dass dieses
Datum bereits in der letzten Nacht vermerkt worden war!
Sie suchten die ganze Parterrewohnung ab. Nirgends eine Spur von Richard
Burling.
»Aber er muss doch hier sein! Alles weist daraufhin, dass er gearbeitet
hat.« Beatrice Burling wurde es nun doch ein bisschen unheimlich zumute. Dieses
große, stille und düstere Haus strahlte eine eigenartige Atmosphäre aus.
Sie durchsuchten die Wohnräume im ersten Stockwerk. Niemand da. Einige
Türen waren verschlossen. Sie gingen wieder hinunter. Beatrice Burlings Gesicht
war sehr ernst. Sie suchte in den Arbeitsmappen ihres Vaters nach den
Tagebuchaufzeichnungen, die er regelmäßig führte, und fand in einer
ledergebundenen Mappe das, was sie suchte. Die Besuche im Zuchthaus von
Dartmoor waren verzeichnet, einige Ideen grob skizziert. Sie blätterte weiter
zurück und fand einen ersten Hinweis auf das Dodgenkeem-Haus. Das verwunderte
sie. Die Eintragungen stammten vom letzten Sommer! Schon da hatte ihr Vater von
diesem Haus gewusst? Es war doch erst kürzlich, nach dem Tod der Besitzerin, freigeworden.
Ihre Hände zitterten. Sie gab Miriam den Auftrag, noch einmal in den hinteren
Räumen nachzusehen und zur Terrasse zu gehen, die von einem kleinen, der
Bibliothek angeschlossenen Raum zu erreichen war. Erst jetzt fiel ihr ein, dass
ihr Vater ja auch einen Spaziergang durch den Park oder zum Meer hätte machen
können. Er legte oft eine kleine Pause während des Schreibens ein.
Miriam ging, während Beatrice mit unverhohlener Neugierde die erstaunlichen
Tagebuchaufzeichnungen ihres Vaters überflog. Sie glaubte zu träumen. Ihr Vater
hatte zum ersten Mal durch einen alten geschichtlichen Bericht eines Seefahrers
von dem Dodgenkeem-Haus erfahren. Es war die Rede von einem Aztekenschatz, der
angeblich hier in der Nähe oder gar unter dem Haus verborgen lag.
Schweißperlen bildeten sich auf der glatten, faltenlosen Stirn von
Beatrice. Hatte ihr Vater tatsächlich an diesen legendären Bericht geglaubt?
War dies der Hauptgrund, weshalb er hierhergekommen war? Interessierte ihn die
Schreibarbeit in der Einsamkeit nur in zweiter Linie?
Sie schluckte und fuhr zusammen, als im Haus eine Tür klappte.
»Miriam?«
Keine Antwort. Wieder völlige Ruhe. Beatrice Burling legte die Mappe
zurück, ging hinaus auf den Flur. Das Geräusch war von hier vorn gekommen. Ihre
Augen erfassten die dunkle Kellertür neben dem hölzernen Treppenaufgang. War
hier eine Tür gegangen?
Siedendheiß stieg es in ihr auf.
War ihr Vater im Keller? War er auf der Suche nach dem sagenhaften Schatz,
von dem er in seinen Aufzeichnungen berichtete? Sie wusste selbst nicht mehr,
woran sie war. In diesen Sekunden wurde ihr so richtig bewusst, wie wenig sie
eigentlich über ihren eigenen Vater wusste.
»Miriam!« rief sie noch einmal. Doch die Freundin war noch nicht zurück. Es
war ihr, als wäre abermals ein Geräusch unten im Keller gewesen. Sie ging
kurzentschlossen auf die Tür zu, die lautlos vor ihr zurückwich. Aufmerksam
starrte sie in das Dunkel, suchte den Lichtschalter und betätigte ihn. Diffuses
Licht riss die kahlen, nackten Wände aus der Finsternis.
Beatrice stieg die Treppen hinab. Mehrere Gänge zweigten nach allen Seiten
ab. Es war ein sehr geräumiger Keller. Sie starrte durch einen Lattenverschlag.
Gerümpel, alte Kisten, eine Nähmaschine, ein Spinnrad. Ratten raschelten unter
dem verstaubten Gerät, klirrend fiel ein alter Topf um. Dröhnend pflanzte sich
das Geräusch als Echo fort und verlor sich in der Tiefe der
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