0260 - Die Mitternachts-Hexe
aus dem See und ihm, und ein Blick genügte, um ihn alle Vorsicht vergessen zu lassen. Stumm und regungslos erwartete er die Ankunft der Fremden.
Und dann, als sie das Ufer erreichte und das letzte Stück bis zu dem Jungen normal zu Fuß zurücklegte, war die letzte Möglichkeit zur Flucht verspielt.
Viel zu spät sah Kevin das teuflische Lächeln in ihrem Gesicht und den Gegenstand in ihrer rechten Hand, den sie, kaum daß sie ihn erreicht hatte, mit Schwung erhob und wuchtig wie einen Stempel aus Eisen gegen Kevins Stirn klatschen ließ.
Der Junge reagierte überhaupt nicht. Er spürte nur noch den grauenhaften Schmerz, den der Gegenstand wie ein glühendes Brandeisen über seinem Gesicht entfachte - dann versank er in gnädiger Ohnmacht…
Die Hexe kicherte.
***
Tim O’Healy gähnte herzhaft und schüttelte sein mächtiges Haupt, als könnte er auf diese Weise die aufsteigende Müdigkeit niederkämpfen. Übellaunig griff er nach der halbleeren Zigarettenpackung, die neben ihm auf dem Beifahrersitz des altersschwachen Transporters lag und klemmte sich ein Stäbchen zwischen die Lippen. Nachdem er es angezündet hatte, versuchte er, im Autoradio einen Sender halbwegs klar und verständlich hereinzubekommen, womit er aber wie immer Pech hatte. Alles, was er dem verhaltensgestörten Transistor entlocken konnte, war ein wenig irische Folk-Musik, die zirka alle fünf Sekunden von einem kurzen, aber durchdringenden Pfeifton unterbrochen wurde.
Das hielt wach.
Der vierzigjährige Schrotthändler blies den Zigarettendunst in Richtung innere Windschutzscheibe und wunderte sich, daß der Rauch auf seinem Weg nicht zu Eiskristallen gefror.
Die verdammte Kälte im Führerhaus des Lieferwagens war ein Grund, weshalb O’Healy ausgesprochen bescheidener Stimmung war. Eine weitere Ursache schepperte hinter seinem Rücken auf der offenen Ladefläche des Wagens lärmend hin und her. Der heutige Fang, den er auf seinem Rundkurs über die verschiedenen Dörfer der Grafschaft gemacht hatte, war nicht gerade Anlaß zum Jubeln. Zwar waren O’Healys Ansprüche ans Leben äußerst minimal - solange er nicht auf seinen täglichen Pub-Besuch verzichten mußte, war alles in Ordnung -, trotzdem hinterließ ein solcher vergeudeter Tag Kratzer in seiner bärbeißigen Mentalität.
Tim O’Healy war ein stämmiger, schwergewichtiger Mann, mit einem meist stoppelbärtigen, leicht verschlagen wirkenden Gesicht. Er hatte bereits eine Halbglatze, die jetzt allerdings von einer speckigen alten Schirmmütze bedeckt wurde. In einem feinen Anzug hatte ihn noch nie jemand gesehen, und es war auch kaum vorstellbar, ihn je in einem solchen zu sehen. Wie immer bei der Arbeit und privat trug der Schrotthändler eine Art Overall aus ehemals dunkelblauem Stoff, dér bereits an mehreren Stellen mit irgendwelchen kunterbunten Flickstücken repariert war. Unter dem Overall trug er zu dieser spätherbstlichen Jahreszeit noch einen dicken Rollkragenpullover.
Plötzlich begann das Radio vollständig verrückt zu spielen.
O’Healy wurde durch die hochfrequenten Störgeräusche aus seinen Gedanken gerissen. Im ersten Moment wußte er gar nicht, was los war. Erschrocken starrte er auf die nächtliche Landstraße, über die sich die matten Scheinwerferbahnen des Lieferwagens mühsam bewegten. Dann erfaßte sein träger Geist die wirkliche Quelle der Störung, und er schlug einmal kräftig mit der Faust gegen die Verkleidung des Transistors. Der Erfolg war gleich Null, so daß er sich schweren Herzens dazu entschloß, das Gerät ganz abzuschalten. Er drehte den Knopf nach links und hörte das charakteristische Knacken, als er in seiner Arretierung einrastete. Gleichzeitig erloschen die Leuchtdioden.
Soweit war alles normal.
Nicht normal war das, was Tim O’Healy drei Sekunden später an seinem gesunden Menschenverstand zweifeln ließ: nämlich die Fortsetzung der infernalischen Störgeräusche, obwohl das Radio jetzt abgestellt war… !
»Das gibt’s doch nicht«, murmelte er verblüfft.
Die Geräusche schwollen immer lauter an und erfüllten das kleine Führerhaus wie einen Resonanzkörper.
Der Schrotthändler verkniff das Gesicht, weil der Lärm langsam aber sicher die Schmerzgrenze erreichte und gar nicht daran dachte, aufzuhören.
Und das Wahnsinnige daran war, daß der Krach eindeutig innerhalb des Wagens entstand und nicht von außerhalb hereindrang - soweit konnte es der Mann noch unterscheiden!
Sein Blick heftete sich auf das Tachometer des
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