0265 - In Brooklyn blüht der Galgenbaum
mich gegen die Wand fallen und atmete ein paar Mal tief. Ich holte mein Taschentuch aus der Hose und tupfte mir behutsam das Blut von den Schnittwunden. Danach kniete ich vor der Tür nieder und blickte durch das Schlüsselloch.
Die Turnhalle war leer. Jedenfalls soweit ich sie überblicken konnte, und das war leider nicht sehr weit. Sollte ich es wagen? Ein paar Mal dachte ich das Risiko durch, dann entschied ich mich für einen anderen Weg.
Ich stellte mich in den winzigen Winkel zwischen Tür und Wand und fing an zu brüllen wie am Spieß. Schon beim zweiten Luftholen hörte ich draußen die hastigen Schritte eines einzelnen Mannes. Ich holte tief Luft und fing wieder an.
Und da flog die Tür auf. Ich sprang vor.
***
»Guten Tag«, sagte der Mann und zog seinen Hut. »Die Polizei schickt mich.«
»Ja?«, erwiderte der Wärter in seinem blütenweißen Kittel, der zu sehr gestärkt war, sodass er bei jeder Bewegung raschelte. »Ja? Um was geht’s denn?«
»Die Unfalltoten«, sagte der Mann. Sein Gesicht war auf eine wächserne Art verkrampft. »Heute früh. Von dem Unglück in der U-Bahn. Die Bombe.«
»Ach so«, nickte der Wärter. »Schön. Kommen Sie rein, Mister. Sie wollen wissen, ob jemand von Ihren Angehörigen dabei ist, was? Kommen Sie, wir gehen runter und sehen nach.«
Zusammen stiegen sie die breite Treppe ins Kellergeschoss hinab. Der Mann war von der drückenden Schwüle draußen jäh in die Kühle eines Kellers gelangt, der mit allen Mitteln moderner Kältetechnik auf einer konstanten Temperatur gehalten wurde. Der Mann fröstelte.
Im eigentlichen Schauraum zog der Wärter eine ovale Metalltür auf. Er zog eine Bahre hervor und deckte das Tuch ab. Der Mann trat zögernd näher. Er warf einen ängstlichen Blick auf das bleiche Gesicht des Leichnams.
»Nein«, sagte er hastig. »Nein.«
Der-Wärter nickte, rollte die Bahre zurück und schloss die Tür. Er ging zur nächsten. Das Spiel wiederholte sich. Und dann rollte er die dritte Bahre hervor und zog das Tuch vom Gesicht.
Ein Mädchen. Nicht älter als höchstens fünfundzwanzig.
Der Mann stand wie versteinert. Dem Wärter genügte ein Blick in das Gesicht des Mannes. Der ist von der harten Sorte, dachte er. Der schreit nicht los. Der frisst es in sich rein. Ist nicht gut. Die, die weinen können, haben es leichter. Der da kann nicht weinen. Pech für ihn.
Der Wärter tat seit elf Jahren Dienst im städtischen Leichenschauhaus. Er war Szenen dieser Art gewöhnt. Aber trotz aller Routine war in seinem Herzen noch eine Stelle, die jedes Mal angerührt winde, wenn er den Schmerz der Angehörigen sah.
Lange Zeit stand der Mann schweigend an der Bahre. Dann drehte er sich plötzlich um.
Könnte ein Officer sein, dachte der Wärter. Die Bewegungen hat er danach. Diese Kehrtwendung eben, das war militärisch. Auch die Art, wie er den Schmerz in sich reinfrisst, passt dazu. Armer Kerl. Könnte seine Tochter gewesen sein. Mit dem Alter würde es wohl ungefähr hinkommen. Eine gewisse Ähnlichkeit war auch vorhanden. Aber darauf kann man jetzt nicht mehr viel geben.Tote sind auf eine unheimliche Art jedem ein bisschen ähnlich und keinem und beides zugleich.
Er rollte die Bahre zurück, klappte die Tür zu und ging wieder hinauf in sein Büro. Er musste die Papiere der Zugänge noch fertig machen. Zugänge, dachte er. Auch so ein Wort, das die Bürokraten erfunden haben. Da wird einem ein Mensch gebracht, ein gestorbener Mensch, und der ist jetzt ein ›Zugang‹. Mit Nummer und Einlieferungsdatum. Nein, weiß der Himmel, es ist nicht alles eitel Sonnenschein auf dieser Welt…
Der Wärter setzte sich an seinen kleinen Schreibtisch. Von seinem Platz aus konnte er die Straße vor dem Schauhaus gut überblicken. Er sah, dass der Mann nur ein paar Schritte vom Eingang entfernt auf dem Gehsteig stand und vor sich hinstarrte. Reglos. Als ob er selbst schon gestorben wäre.
Armer Kerl, dachte der Wärter noch einmal und griff nach den Papieren. Plötzlich runzelte er die Stirn und blätterte hastig in den Formularen. Aber natürlich! Das war doch das Mädchen, von dem man weder Namen noch sonst etwas wusste! Wie hatte er das nur vergessen können!
Ich muss ihn sofort fragen, dachte er und fuhr von seinem Stuhl in die Höhe. Aber als er zum Fenster hinausblickte, sah er nur noch, dass der Mann gerade in ein Taxi stieg. Es fuhr davon, bevor er sich auch nur die Nummer hatte einprägen können.
Na, er wird wohl wiederkommen, dachte der Wärter und
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