029 - Der Unheimliche
Mittagspause rief Amery Elsa Marlowe herein und diktierte ihr Anweisungen, die zu beachten wären, wenn während seiner Abwesenheit für ihn angerufen würde. Sie bemerkte, daß er einen neuen grauen Anzug anhatte, und sie fand, daß der helle Stoff ihm gut stand. Als er das Diktat beendet hatte, lehnte er sich im Sessel zurück, und seine Blicke wanderten zum Fenster.
»Haben Sie Bekannte in Shanghai«, fragte er.
»Ich? Nein, Major Amery«, antwortete sie erstaunt.
»Ich nehme an, daß auch Sie von den Gerüchten gehört haben, die dort in Umlauf waren.«
»Nein. Ich kenne zwar die Briefe unserer dortigen Agenten, aber von Skandalen war darin nicht die Rede. Um wen geht es denn?«
»Vor allem um mich!« entgegnete er.
Elsa wurde neugierig. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, was für eine Art von Skandal oder Gerücht diesen eiskalten Mann berühren konnte. Anscheinend besaß er doch eine menschliche Seite.
»In Shanghai kann man sehr viel Geld verdienen -ehrlich und auch auf andere Weise«, fuhr er fort, »meistens auf andere Weise. Das ist alles«, schloß er und schickte sie hinaus.
Während ihre emsigen Finger auf die Tasten der Schreibmaschine hämmerten, überlegte sie, welche Methode des Geldverdienens dem Unheimlichen wohl am meisten zusagte, und sie glaubte nicht, daß er in dieser Beziehung besonders wählerisch war.
Elsa traf Tarn, als sie in der Mittagspause auf die Straße ging, um Luft zu schöpfen. Gewöhnlich verließ Tarn das Geschäft nicht vor dem Abend, und Elsa war überrascht über sein Fortgehen. Sie mochte ihn jedoch nicht nach dem Grunde fragen, obwohl er auch nicht gröber als Amery sein konnte. Bei seinem Anblick wurde ihr klar, daß sie sein Haus bei der ersten günstigen Gelegenheit verlassen mußte, sie konnte es nicht mehr ertragen, unter einem Dach mit ihm zu leben.
Mr. Tarn war vollkommen verstört. Einen Plan nach dem anderen dachte er sich aus, um ihn wieder zu verwerfen. Sein einziger Wunsch war, Ruhe in einem anderen Land auf einer einsamen Farm zu finden.
Ralf Hallam hatte ihn zu sich gebeten.
»Ich habe mit den anderen beraten«, berichtete Ralf, »und wir sind alle der Meinung, daß es das beste wäre, wenn Sie das Land verließen. Ihre Nerven sind zum Teufel, und es scheint, als ob dieser Amery imstande wäre, einen Teil unserer Organisation zu zerschlagen.«
»Sie ist schon zerschlagen«, ächzte Tarn. »Auch nicht eine Unze kann durch Amery & Amery mehr hereinkommen. Ich wünschte, ich hätte mich nie auf die Sache eingelassen! Hier, schauen Sie sich das an. Das ist heute früh für mich abgegeben worden.«
Seine zitternden Hände brachten aus der Brusttasche einen Brief zum Vorschein, den er Hallam reichte. Er war auf sehr dickem Briefpapier mit verstellter Schrift geschrieben. Ohne Einleitung begann er:
›Sie fischen in unserem Wasser, und dank Ihrer unbeschreiblichen Dummheit arbeitet die Polizei mit Überstunden. Wenn Sie uns Ihre Agenten übergeben und Ihre Organisation auflösen, werden wir Ihnen Hunderttausend zahlen. Sollten Sie dieses Angebot ausschlagen, finden wir andere Wege, Sie auszuschalten‹
Als Unterschrift stand ein großes ›S‹ darunter. Ralf gab den Brief mit einem Lächeln zurück.
»Wenn die schon Hunderttausend dafür zahlen wollen, ist die Sache für uns eine Million wert. Was denken Sie, warum man gerade Ihnen den Wisch geschickt hat? Weil die wußten, daß Sie der einzige Mann in der Organisation sind, der Angst hat. Wann haben Sie das erhalten?«
»Es lag auf meinem Schreibtisch, als ich heute morgen ins Büro kam. Niemand scheint zu wissen, wer es hingelegt hat.«
»Vielleicht kann es Amery erklären«, meinte Hallam trocken. »War er vor Ihnen im Büro?«
Tarn nickte. »Ich will 'raus aus der Sache. Wir wollen das Geld teilen. Es ist so viel da, daß wir beide reich sind.«
»Haben Sie es in bar liegen?«
»Wie sonst?« äußerte der andere ungeduldig. »Wenn ich Ihren Rat befolgt und es in dieser Stebbings-Bank deponiert hätte, würden wir schon von der Polizei erwartet werden, wenn wir es abheben wollten. Das Geld ist da!« meinte Tarn, das erstemal an diesem Tage etwas heiterer. »Wir wollen am Ende der Woche teilen. Die Überfahrt habe ich schon gebucht.«
»Sie sind ein seltsamer Vogel«, sagte Hallam belustigt. »Sie opfern ein Vermögen! Aber dieser Schritt ist wohl der einzig richtige.« Er stand vom Tisch auf und zündete sich eine Zigarette an. »Sie fahren doch wohl allein?«
Tarn rutschte unbehaglich
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