029 - Der Unheimliche
alte Mr. Amery lebte, bin ich schon einmal dortgewesen.«
»Er hat es sicher nach seinem indischen Geschmack umgeändert... Teppiche, in denen, man versinkt... Räucherkerzen und Musik... Ich bin so gespannt.«
Elsa war belustigt über diese Begeisterung.
»Man könnte glauben, Sie haben sich mit ihm verschworen«, meinte sie erheitert. »Sie können mich bis zum Hotel begleiten, damit man mich nicht auf offener Straße in London entführt und in Majors Amerys geheimen Harem bringt.«
»Auch das ist schon dagewesen!« behauptete Miss Tame. Elsa verbrachte einen unruhigen Abend im Hotel. Kaum war sie dort angelangt, rief Miss Tame an und fragte sie, ob sie ihre Meinung geändert habe.
»Seien Sie nicht töricht, Jessie!« wehrte Elsa ab, als sie zum fünftenmal angerufen wurde. »Major Amery hat noch nicht telefoniert, und ich gehe auch nicht hin.«
»Ich werde bis halb elf alle halben Stunden bei Ihnen anrufen«, entgegnete Miss Tame entschlossen. »Sie können sich darauf verlassen, Miss Marlowe!«
Elsa stieß einen ärgerlichen Laut aus und legte den Hörer auf. Es war kurz vor elf, als das Telefon wieder läutete; Elsa vermutete, daß wiederum Miss Tame sich melden würde und nahm daher nur zögernd den Hörer ab.
Doch es war Major Amery.
»Miss Marlowe? Bitte, nehmen Sie ein Taxi, und kommen Sie gleich zu mir. Meine Wirtschafterin ist schon unterwegs, um Miss Tame zu holen.«
»Aber, Major Amery, ich will gerade schlafen gehen.«
Klick! hörte sie, und das Gespräch war beendet.
Jetzt konnte sie ihre Unabhängigkeit beweisen. Sie war immer zu nachgiebig gewesen, doch er sollte ihr nicht Befehle erteilen können wie einer Sklavin. Sie würde ihm beweisen, daß er ihr seinen Willen nicht aufdrängen konnte! Unentschlossen saß sie auf dem Bettrand und starrte auf das Telefon. Als es nach einer viertel Stunde wieder läutete, sprang sie auf.
»Miss Marlowe«, klang es ungeduldig, fast ärgerlich, »ich erwarte Sie. Miss Tame ist schon da.«
Elsa seufzte. »Ich komme.«
Sie redete sich ein, daß sie nur nachgegeben habe, um die phantasievolle Jessie Tame nicht in jenem ›Haus der Geheimnisse‹ allein zu lassen. Im Innersten gestand sie sich aber ein, daß sie dem Willen des Unheimlichen nicht widerstehen konnte - und deshalb haßte sie ihn mehr denn je.
Ein alltäglich aussehender Diener öffnete ihr die Tür, und eine kleine Frau mittleren Alters von sehr achtbarem Aussehen führte sie in den Salon, wo Jessie Tame auf einer Stuhlkante saß. Ihre Lippen waren zusammengepreßt, sie schaute sich ausgesprochen enttäuscht um. Das Zimmer war sehr groß und altmodisch eingerichtet. Elsa konnte Miss Tames Enttäuschung gut verstehen.
Der Unheimliche war nirgends zu sehen; sie waren allein im Zimmer.
»Haben Sie ihn gesehen?« flüsterte Miss Tame.
»Nein.«
»Es sieht ganz normal hier aus.« Miss Tame rümpfte die Nase. »Aber ein chinesischer Diener ist da. Man muß sehr vorsichtig sein!« Sie legte den Finger an die Lippen, als die Tür aufging und Amery eintrat. Er war im Frack, und nach den Falten auf seiner Stirn zu urteilen, war er in seiner üblichen Laune.
»Ich hatte nicht angenommen, daß ich Sie herzubitten brauchte«, erklärte er kurz, »aber es ist etwas geschehen, was meinem kleinen Scherz eine andere Wendung gegeben hat.«
Seinem kleinen Scherz? Elsa begriff nichts.
»Ich nehme an, daß Sie beide diese Sache streng vertraulich behandeln werden«, fuhr er fort. »Sie werden heute Abend Dinge hören, die gewisse Leute gern erfahren würden und für die sie eine Menge Geld hergäben.«
Er klatschte zweimal in die Hände, und Miss Tames Augen leuchteten auf. Eine gegenüberliegende Tür öffnete sich, und ein Chinese trat ein. Es war nicht Feng Ho, sondern ein kleiner, gelber Mann in einer blauseidenen Jacke, in deren Ärmel er seine Hände versteckt hielt. Major Amery wechselte einige Worte mit ihm in einer Sprache, die Elsa für chinesisch hielt. Dann forderte er die beiden Damen auf: »Kommen Sie bitte hier herein!« und schritt auf die offene Tür zu.
Der Chinese verschwand, und nach kurzem Zögern faßte Elsa Miss Tame am Arm. Dann folgten sie Amery in ein kleines Zimmer mit drei Türen. Er öffnete die erste Tür und gab den Mädchen ein Zeichen, zu warten. Dann ging er hinein. Nach einer Weile erschien er wieder:
»Bitte, kommen Sie!« Die Mädchen folgten ihm in eine hellerleuchtete Kammer, die offenbar für Dienstboten bestimmt war und in der nur ein Bett und ein Schrank
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