029 - Der Unheimliche
vergeblich, bis sie einen kleinen Wandschrank erblickte, dessen Tür nur angelehnt war. Wie erwartet, enthielt er eine Anzahl Fächer mit Schreibmaterial. Sie fand aber auch noch etwas anderes -einen kurzen Knüppel, zwanzig Zoll lang und beinahe so stark wie ihr Handgelenk, aus Rhinozeroshaut gefertigt. Mr. Tarn hatte aus demselben Material einen Spazierstock. Elsa hätte den Knüppel kaum bemerkt, wenn er nicht auf einem Stapel Schreibpapier gelegen hätte, auf dem einige dunkle Flecken waren. Es waren Blutflecken! - Ohne zu Miss Tame über ihren Fund zu sprechen, nahm Elsa den Knüppel in die Hand, betrachtete ihn näher und entdeckte, daß das Ende rot und noch feucht war.
22
Das Geheimnis von Mr. Tupperwills Verletzung war kein Geheimnis mehr. Dies war die Waffe, und Paul Amery hatte den Schlag geführt. Er war dann anscheinend sofort ins Arbeitszimmer gelaufen, hatte den Stock in den Wandschrank geworfen und ihn vollständig vergessen. Danach war er wieder hinausgeeilt und hatte so getan, als ob er dem Mann behilflich wäre. Vermutlich hatte das Hinzukommen des Passanten Tupperwills Leben gerettet. Elsa lief ein Schauer über den Rücken; schnell nahm sie einige Blatt Papier, schloß die Schranktür und kehrte an den Tisch zurück.
»Was ist mit Ihnen los, Miss Marlowe?«
Jessie starrte sie betroffen an, als sie Elsas bleiches Gesicht sah.
»Ich weiß nicht. Mir ist nicht ganz wohl«, wehrte Elsa ab.
Sie spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine, biß sich auf die Lippen und konzentrierte sich auf die Aussage. Während sie schrieb, wurde ihr die Sache immer klarer, ihre Annahme gewann immer mehr an Wahrscheinlichkeit. Sie war mit dem Schreiben gerade fertig, als Amery ins Zimmer kam. Er las die Aussage durch, verbesserte zwei Fehler und ging wieder.
»Eine von Ihnen muß mitkommen«, sagte er, »sie muß als Zeugin unterschreiben.«
Jessie Tame folgte ihm und kehrte kurz darauf zurück mit der Bemerkung, daß sie die Urkunde als Zeugin unterschrieben habe und daß Mr. Tupperwill jetzt aufrecht sitze und nach Hause gehen wolle.
Durch die offene Tür hörte sie Schritte im Gang, und Mr. Tupperwill trat blaß und schwankend ein.
»Etwas Kognak wird Ihnen guttun!« empfahl Amery, öffnete ein Schränkchen und goß ein Glas ein.
»Ja, danke!« murmelte der Bankier. »Ich hätte eigentlich den Mann beschreiben sollen, den die beiden Kerle angegriffen haben, aber ich hatte es vergessen.«
»Sagten Sie nicht, er habe ein Tuch über dem Kopf gehabt?«
»Gewiß, sein Gesicht habe ich nicht gesehen. Aber er war klein und trug einen gelblich braunen Anzug, wenigstens eine solche Hose. Darauf könnte ich schwören!«
»Ich werde Mr. Tupperwill nach Hause bringen«, meinte Amery zu den Mädchen. »Ich benötige Sie nun nicht länger und danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«
Elsa trennte sich so schnell wie möglich von Miss Tame, und sobald sie in ihr Hotel zurückgekehrt war, rief sie Ralf an und erzählte ihm den Vorfall.
»Du bist noch nicht im Bett?« fragte er schnell. »Ich meine, ich kann dich doch noch besuchen, wenn ich sofort komme?«
»Gewiß«, sagte Elsa verwundert, »aber ich kann dich ja morgen früh treffen.«
»Nein, ich muß dich unbedingt sofort sprechen. Am Telefon kann ich nichts darüber sagen. Willst du mich in der Halle erwarten?«
Elsa schaute auf ihre Armbanduhr, es war zwölf.
»Schön, ich will meinen guten Ruf aufs Spiel setzen. Komm aber sofort!« stimmte sie zu.
Ralf traf bald ein und erfuhr in allen Einzelheiten Tupperwills erstaunliches Erlebnis. Elsa hatte ganz offen gesprochen. Sie hatte das Gefühl, daß sie sich in diesem Fall keine Zurückhaltung auferlegen mußte. Als sie geendet hatte, sah Ralf sie seltsam an.
»Also das ist es! Er spricht zuviel! Der Teufel muß belauscht haben, was Tupperwill mir heute morgen über ihn gesagt hat. Wie er das aber fertiggebracht hat, ist mir ein Rätsel! Erst Tarn, dann das Geld, und nun Tupperwill. Soyoka schreckt vor nichts zurück.«
»Soyoka? Ralf, das ist doch der Chef der Rauschgiftbande?« In diesem Augenblick erkannte sie die Zusammenhänge. »Es waren doch zwei Banden - die Soyokas und die andere - Mr. Tarns?« flüsterte sie atemlos.
Hallam nickte. »Früher oder später mußtest du es doch erfahren.«
»Und du?« fragte sie mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Wispern klang.
»Ich auch«, erklärte er kühl. »Du brauchst daran keinen Anstoß zu nehmen, Elsa. Es ist eine reine Geschäftssache. Du
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