029 - Der Unheimliche
standen. Auf dem Bett lag ein Mann, bei dessen Anblick Elsa vor Unruhe und Erstaunen das Herz klopfte. Sein Gesicht war aschfahl, sein Kopf und eine Hand verbunden, doch mit einem freundlichen Lächeln begrüßte er sie.
»Wie seltsam!« murmelte er.
»Dies ist Mr. Theophilus Tupperwill, der bekannte Bankier!« stellte Amery vor.
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»Wir sind uns schon unter angenehmeren Umständen begegnet«, wandte sich Tupperwill an Elsa. »Sie sind doch das Fräulein, das...«
»Wir wollen Ihre Aussage schriftlich festhalten«, unterbrach ihn Amery und schaute Elsa an.
»Unser Freund hatte ein sehr unangenehmes Erlebnis, und er möchte gern - oder vielmehr, ich möchte -, daß dieser Vorfall schwarz auf weiß niedergelegt wird.«
»Das klingt sehr geschäftsmäßig!« murmelte Mr. Tupperwill.
»Und er wird unterzeichnet!« fügte Amery hinzu. Elsa fiel auf, daß er diese Worte besonders betonte.
Der Unheimliche berührte den Kopfverband, und Mr. Tupperwill zuckte zusammen.
»Für einen Amateur nicht schlecht«, lobte Amery. »Nun, Miss Marlowe, haben Sie Ihren Stenoblock mitgebracht?«
Elsa nickte. Was mochte das alles bedeuten? Sie warf Jessie Tame einen schnellen Blick zu und bemerkte, daß ihre Kollegin vor Aufregung zitterte. Endlich hatte sie ihre Sensation!
Amery holte aus dem Nebenzimmer einen Stuhl, den er neben das Bett des Verletzten stellte.
»Sind Sie soweit, Miss Marlowe?«
Elsa war bereit, und der Bankier murmelte wieder mit einem schmerzlichen Lächeln:
»Sehr geschäftsmäßig! Ich soll also eine Aussage machen. Wo beginne ich nur? Ja, ich hatte mein Abendessen eingenommen und befand mich danach auf meinem üblichen Abendspaziergang. Ich gehe immer um Viertel nach zehn dreimal um den Häuserblock - ich brauche die Bewegung, - sonst kann ich nicht einschlafen. Wie immer ging ich meinen gewöhnlichen Weg durch die Brook Street zur Park Lane und kehrte auf demselben Weg zurück.
Die Straße ist um diese Zeit menschenleer. Plötzlich fuhr ein Wagen an der Bordkante vor. Zwei Männer stiegen aus. Noch ein dritter Mann erschien, und ganz unerwartet entstand zwischen diesen dreien eine Schlägerei! Das heißt, zwei Männer schlugen auf den dritten ein, dessen Kopf sie in ein Tuch gehüllt hatten. Ich wollte die Leute zum Aufhören veranlassen, aber kaum hatte ich einen Schritt getan, erhielt ich einen Schlag und verlor das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in den Armen Major Amerys und eines Passanten, der dem Major behilflich war, mich in sein Haus zu tragen, vor dessen Tür ich überfallen worden war.«
»Sie haben den Brief vergessen«, sagte Amery trocken.
»Ach ja! Meine Gedanken sind ganz verwirrt! Bitte, fügen Sie noch hinzu, daß mein Diener mir nach dem Abendessen einen Brief übergab, den er nach seinen Angaben im Briefkasten gefunden hatte. Er enthielt nur vier Worte: ›Sie sprechen zu viel!‹ Was diese Worte bedeuten, weiß ich nicht; ich bin von Natur aus sehr zurückhaltend. Haben Sie noch Fragen an mich, Major?«
»Als Sie aufgefunden wurden, war der Wagen selbstverständlich verschwunden?«
»Ja, und auch die Männer. Sie sagten doch, daß Sie niemanden gesehen hätten.«
»Ich sah sie«, bemerkte Amery gelassen, »wenigstens den Wagen. Haben Sie das, Miss Marlowe?«
Elsa nickte.
»Sie finden in meinem Arbeitszimmer eine Schreibmaschine. Die Haushälterin wird Ihnen den Weg zeigen. Ich möchte, daß Sie die Aussage gleich niederschreiben, damit sie sofort unterzeichnet werden kann.«
Elsa verließ mit der aufgeregten Jessie Tame das Zimmer.
»Was sagen Sie dazu?« fragte Jessie, als sie in dem kleinen, einfachen Arbeitszimmer allein waren. »Haben Sie so etwas schon erlebt? Das übertrifft jeden Film! Ich habe immer gesagt, daß im Leben mehr gräßliche Dinge passieren, als man sich vorstellen kann. Was glauben Sie, wer es war, Miss Marlowe?«
Elsas Gedanken waren vollständig verwirrt.
»Ich weiß nicht, ob Major Amery etwas gegen diesen Bankier hat«, meinte sie nachdenklich, »aber ich habe gehört, daß manchmal Schlägereien provoziert werden, um unschuldige Leute hineinzuziehen.«
Miss Tame ließ sich vor Staunen auf ein Sofa fallen.
»Wollen Sie etwa damit sagen, daß der Unheimliche diese Straßenschlägerei inszeniert hat?«
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich denken soll.«
Elsa Marlowe wollte sich jetzt nur auf ihre bevorstehende Arbeit konzentrieren. Die Schreibmaschine stand wohl auf dem Tisch, aber es war kein Papier da. Elsa suchte
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