029 - Der Unheimliche
mehrere Kisten, die ineinander paßten, denn fünf hölzerne Fächer standen aufeinander. Mit Hilfe des Hausmädchens, das auch gekommen war, trug sie die Kiste in ihr Zimmer, öffnete sie und hob die drei obersten Fächer hoch. Das vierte aber wollte nicht nachgeben.
»Das macht nichts, Emily!« meinte Elsa. »In den drei obersten Fächern ist genug Platz für alles, was ich mitnehmen will.«
Sie beeilte sich mit dem Packen, denn es dämmerte schon, und sie wollte fertig sein, bevor die Nacht hereinbrach. Als alles erledigt war, schaute sie sich nochmals um und ging dann hinunter, um dem Angestellten des Anwalts den Schlüssel zu übergeben und sich von dem Hausmädchen zu verabschieden. Elsa empfand ein Gefühl der Dankbarkeit, daß sie diesen Ort voller unglücklicher Erinnerungen verlassen konnte. Sie stieg in eine Taxe und war froh, als die öde Straße - wie sie hoffte, für immer - ihren Augen entschwand.
Elsa ließ das größte Gepäckstück, das sie vorläufig nicht brauchte, im Hotel, bezahlte ihre Rechnung und fuhr weiter nach Herbert Mansions. Den versprochenen Besuch bei Mrs. Trene Hallam konnte sie nun nicht länger aufschieben, doch fuhr sie mit der Ahnung hin, daß ihr eine unangenehme Zeit bevorstand.
28
Zum sechstenmal öffnete Ralf Hallam das Fenster und schaute hinaus. Das Auto war noch immer nicht in Sicht, und er kehrte in seinen Lehnstuhl vor dem Kamin zurück.
»Es ist schon viele Jahre her, daß du so auf mich gewartet hast«, stellte Mrs. Hallam ohne Groll fest.
»Ich kann mich nicht erinnern, daß ich jemals gewartet habe, Lou«.
Mrs. Hallam lachte. »Was ist das eigentlich für ein alter Knabe?« wollte sie wissen. »Muß ich meine besten Manieren zur Schau tragen, oder kann ich ihn als einen der Unsrigen behandeln?«
»Der ›alte Knabe‹ ist mein Bankier und einer der angesehensten Leute in der City - und er wird bei der ersten gemeinen Redensart aus der Haut fahren.«
Lou Hallam seufzte tief. »Jedesmal, wenn du bei mir ein Essen gibst«, beklagte sie sich, »lädst du die langweiligsten Tröpfe ein. Ich persönlich ziehe die Gesellschaften vor, die mit Cocktails anfangen und mit Frühstück aufhören.«
Sein Gesicht verriet Mißfallen.
»Ist das etwa auch ordinär?« forderte sie ihn heraus und blickte ihn scharf an. »Du kannst es auf Konto ›Straßenerziehung‹ schreiben. Ich stelle fest, daß du das Wort ›Straße‹ schon seit einer Woche nicht mehr erwähnt hast. - Das wird deine hübsche junge Dame sein.« Sie stand auf, weil die Flurglocke läutete.
Erst nachdem Elsa ihr schön möbliertes Schlafzimmer und das kleine Wohnzimmer gesehen hatte, erfuhr sie, daß Ralf da war.
»Ich wollte gern sehen, wie du untergebracht bist«, sagte er zur Begrüßung.
Das war ihr sehr angenehm, denn allein mit seiner ›Schwägerin‹ fühlte sie sich nicht ganz wohl.
»Ein lieber alter Freund von uns kommt heute zu Tisch. Ich glaube, er ist auch einer Ihrer Freunde«, erzählte Mrs. Hallam mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck. »Sie kennen doch Mr. Upperwill?«
»Tupperwill!« verbesserte Ralf laut.
Elsa hatte den Fehler bemerkt und fragte sich, was das für ein alter Freund sein konnte, dessen Namen sie vergessen hatte.
»Er gehört nicht zu meinen Freunden, ich habe den armen Mann ja erst zweimal getroffen.«
»Tupperwill ist vollständig wiederhergestellt«, berichtete Ralf.
Als er merkte, daß seine Frau über Tupperwill s Verletzung im unklaren war und womöglich verraten konnte, daß sie ihn noch niemals gesehen hatte, rief er sie unter einem Vorwand ins Nebenzimmer.
»Tupperwill ist vor einigen Tagen überfallen worden. Und merk dir bitte seinen Namen«, befahl er schroff. »Es war gar kein Grund vorhanden, daß du ihn deinen lieben alten Freund nanntest, denn du hast ihn niemals gesehen.«
»Warum kommt er überhaupt?«
»Er kommt«, sagte Ralf, »um den schlechten Eindruck, den du machen könntest, abzuschwächen. Ich möchte, daß Elsa etwas mehr Vertrauen zu dir bekommt, als sie jetzt hat. Vorläufig ist sie nervös, und wenn sie sich nicht wie zu Hause fühlt, geht sie vielleicht wieder ins Hotel zurück, und das will ich nicht. In den nächsten Tagen werde ich sie in meinen Beruf einweihen.«
»Und was ist dein Beruf?«
»Das geht dich nichts an. Sie kann mir jedenfalls behilflich sein. Verstehst du das?«
Elsa bedauerte schon, daß sie gekommen war. Sie traute Mrs. Trene Hallam nicht. Ihre Freundlichkeit war nur äußerlich und nicht aufrichtig.
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