029 - Der Unheimliche
er wie echt wirkte.
»Nun, Amery, es wird Sie interessieren, daß Ihr Chinese gegenwärtig bedauert, sich in unsere Angelegenheiten eingemischt zu haben.«
»Sie überraschen mich!« entgegnete Amery.
»Er war Ihrer Taxe gefolgt, das haben Sie wohl nicht gewußt. Laufen kann er, das muß ich zugeben. Aber wir haben ihn doch erwischt! Jetzt weiß er, daß er nicht der einzige ist, der ein Messer benutzen kann.«
»Ich weiß es auch«, erklärte Amery. »Sie können es recht gut, wie der arme, alte Maurice Tarn erfahren mußte. Es ist seltsam, ich hatte gedacht, daß Sie die Taxe gefahren haben. Und was kommt nun?«
Stillman zündete sich eine Zigarette an, bevor er antwortete.
»Das müssen Sie nicht mich fragen, ich bin nur ein interessierter Zuschauer. Der hohe Herr macht die Arbeit selbst.« Er schaute in die Grube und dann auf den Zement. »Tame und ich sind nur der erste und der zweite Totengräber - weiter nichts.«
»Was werden Sie mit dem jungen Mädchen machen?«
Der andere schüttelte den Kopf und blies eine Rauchwolke in die Luft.
»Ich weiß es nicht, der hohe Herr hat seine eigenen Absichten. Sie weiß mehr, als für uns gut ist. Das verstehen Sie doch?«
»Sie weiß gar nichts. Sie weiß nicht einmal, wer ich bin.«
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie ihr diesen wichtigen Punkt nicht anvertraut haben? Ich dachte, Sie hätten ihr, um sicher zu sein, gesagt, daß Sie der Leiter der Nachrichtenabteilung zur Bekämpfung des Rauschgifthandels beim Auswärtigen Amt waren und daß man Sie herübergeholt hat, als der arme alte Bickerson versagte. Die falsche Nachricht über Ihren Skandal in Shanghai lenkte hier jeden Verdacht ab. Ich muß zugeben, daß Sie mich für kurze Zeit getäuscht haben. Das ist aber jetzt das Ende, Amery! Wenn es nach mir ginge, wäre es auch für das Mädchen das Ende! Es ist wahnsinnig, sie am Leben zu lassen, aber der hohe Herr hält es für richtig. Ich stehe in der letzten Zeit nicht mehr so gut mit ihm, um etwas dagegen sagen zu können.«
Amery fühlte leise an seinen Handschellen. Einmal hatte ein indischer Gefangener seine Bewunderung erweckt, der sich leicht seiner Fesseln entledigte. Mit einer Handvoll Rupien hatte er das Geheimnis gekauft. Ob er den Trick noch konnte? Plötzlich kam Stillman zu ihm herüber, nahm einen Strick aus der Tasche und band Amery die Füße zusammen.
»Es täte mir leid, wenn unser Freund durch einen Fußtritt verletzt würde!« Er grinste zynisch.
Amery versuchte mit großer Mühe, seine Handknöchel zusammenzudrücken, wie der Inder es ihn gelehrt hatte. Aber sein Mut schien ihn verlassen zu wollen, als er an die Worte des Inders dachte.
»Herr, diesen Trick müssen Sie jeden Tag üben, denn sonst können sie es nicht machen.«
»Was soll es werden - Erhängen oder Erschießen?«
»Keines von beiden!« sagte Stillman und schaute zu Tame, der vor Furcht zitterte. »Sie sollten besser nach dem Mädchen sehen. Ich will auf den Herrn warten - da kommt er schon! Kommen Sie in einer Viertelstunde zurück, Tame, länger brauchen Sie kaum zu warten!«
Tame war froh, daß er den Schuppen verlassen konnte.
»Ich höre nichts«, bemerkte Amery.
»Feng Ho hätte es gehört!« meinte Stillman. »Da ist der Chef!«
Die Decke vor der Tür bewegte sich wieder und man hörte die Tür zuklappen. Eine fette weiße Hand erschien hinter der Decke, und das lächelnde Gesicht des Mr. Tupperwill, Bankier und Puritaner, kam zum Vorschein.
47
Das breite, feiste Gesicht Tupperwills nahm den Ausdruck von Schmerz und Ekel an. Erst musterten seine milden Augen den Gefangenen, dann betrachtete er die tiefe Grube und den Mörtel.
»Alles ist nach Vorschrift gemacht worden«, betonte er. »Es ist doch eine große Erleichterung, wenn man sich auf seine Freunde verlassen kann. Ich glaube, Sie haben unter der Unfähigkeit Ihrer Untergebenen zu leiden gehabt?«
Amery lächelte verächtlich, sagte aber nichts. Die Stille in dem Raum, dessen Wände und Decken gedämpft waren, war so groß, daß er das Ticken seiner Uhr hören konnte.
»Man muß auch die trivialsten Sachen zuverlässigen Leuten anvertrauen«, dozierte Tupperwill. Wieder schaute er Amery an. »Theologen, große Denker, Metaphysiker, die größten Männer der Wissenschaft haben das herauszufinden versucht, was Sie bald wissen werden, Major Amery!« sagte er und seufzte tief. »Gibt es ein Leben nach dem Tode? Wer weiß es? Ist es möglich, daß die Theorie vom Leben nach dem Tode nur aus
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