03 - Auf Ehre und Gewissen
Baumwolle, das innen eingenäht war. Harry sah es sich an. Die Zahl 4 war mit Wäschetinte auf das Stoffquadrat geschrieben.
Er riß die Augen auf. Er hatte wie alle anderen heute morgen erfahren, daß man Matthew Whateleys Schulkleidung auf dem Abfallhaufen gefunden hatte, teilweise verbrannt. Aber nicht alle seine Kleider, wie Harry jetzt erkannte. Nicht alles war dabei gewesen.
Er schluckte. Sein Mund war trocken. Hier war etwas. Etwas Greifbares, das war nicht petzen, das war nicht anschwärzen, und es war nicht einmal riskant. Und vielleicht würde es ausreichen, um seine Schuldgefühle und den Kummer zu vertreiben.
Ängstlich sah er zur offenen Tür. Der Korridor war leer. Die anderen saßen im Studierzimmer und machten ihre Aufgaben. Er hatte nicht viel Zeit. Gleich würde der Hausälteste kommen, um zu sehen, wo er blieb, warum er nicht im Studierzimmer war, wo er hingehörte. Harry setzte sich kurzentschlossen auf den Boden, zog Schuh und Strumpf aus und schlüpfte in Matthews Socke. Sie hatte ein anderes Blau als seine eigene, deshalb zog er seine darüber. Der Schuh saß danach ein bißchen eng, aber das machte nichts. Matthews Socke war sicher.
Jetzt mußte er nur noch überlegen, wem er sich anvertrauen konnte.
15
Als Patsy Whateley die Tür öffnete, und Lynley sah, daß sie immer noch oder wieder den gelben Morgenrock mit den Drachen trug, fragte er sich, wieso er das Kleidungsstück nicht schon vorher mit dem in Zusammenhang gebracht hatte, was die Bonnamys über Matthew gesagt hatten. Der Morgenrock hatte offensichtlich ein chinesisches Muster, und das schien ihm in diesem Moment alles zu bestätigen, was die Bonnamys behauptet hatten.
Patsy Whateley sah sie einen Moment lang verständnislos an. Das Spätnachmittagslicht wurde schon schwächer, und da die Vorhänge im Haus zugezogen waren und im Wohnzimmer kein Licht brannte, waren ihre Gesichtszüge kaum erkennbar. Sie zog die Tür weit auf und trat mit schlaff herabhängenden Armen heraus. Der Morgenrock klaffte am Ausschnitt und zeigte einen Teil ihrer weißen, eingefallenen Brust. Ihre Füße waren nackt.
Barbara ging auf sie zu. »Sind Sie allein, Mrs. Whateley? Wo sind denn Ihre Hausschuhe? Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«
Lynley folgte ihr ins Haus und schloß die Tür. Augenblicklich nahm er den fauligen Fischgeruch wahr, der von Patsy Whateleys ungewaschenem Körper ausging. Während Barbara der Frau den Morgenrock zuzog und nach einigem Suchen einen der Hausschuhe unter dem karierten Sessel entdeckte, machte Lynley Licht und öffnete eines der Fenster einen Spalt.
Barbara schnürte der Frau den Gürtel des Morgenrocks enger und sagte: »Gibt es niemanden, der Ihnen Gesellschaft leisten könnte, Mrs. Whateley? Haben Sie keine Verwandten in der Nähe? Ist Ihr Mann in der Arbeit?«
Patsy reagierte überhaupt nicht. Lynley bemerkte ihre geschwollenen Augen, die Fahlheit ihres Gesichts, den stumpfen Blick, die Schweißflecken unter den Achseln. Ihre Bewegungen waren träge und schwerfällig. Er ging in die Küche. Sie war nicht saubergemacht oder aufgeräumt worden, seit Patsy Whateley am Tag zuvor die Plätzchen gebacken hatte. Das Gebäck lag überall auf Arbeitsplatten herum zwischen Rührschüsseln, in denen der Teig hart geworden war, Holzlöffeln, Schalen und Tassen, Backblechen und einem elektrischen Rührgerät. Im Spülbecken stand fettiges Wasser.
Lynley nahm den Wasserkessel vom Herd und trug ihn zum Spülbecken. Barbara kam herein. »Ich mach das schon, Sir«, sagte sie. »Vielleicht finde ich auch was Eßbares für sie. Ich glaube, sie hat seit Sonntag nichts mehr zu sich genommen.«
»Wo ist der Mann?« hörte Lynley sich aufgebracht fragen. Er spürte Barbaras Blick.
»Jeder hat seine eigene Weise, mit einem Verlust umzugehen«, sagte sie.
»Aber nicht allein«, fuhr er sie an. »Es ist doch nicht nötig, daß er sie so allein läßt -«
Havers drehte den Wasserhahn zu. »Wir sind alle allein, Inspector. Alles andere ist Illusion.« Sie stellte den Kessel auf den Herd und ging zum Kühlschrank. »Da ist ein Eckchen Käse. Und ein paar Tomaten sind auch da. Mal sehen, was ich da zurechtmachen kann.«
Lynley kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Patsy Whateley stumm und in sich zusammengesunken in dem karierten Sessel kauerte. Als er am Heizofen vorbeikam, sah er den zweiten Hausschuh darunter liegen. Er hob ihn auf, ging zu ihr und kniete vor ihr nieder, um ihn ihr anzuziehen. Als er ihre Ferse umfaßte und die
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