03 - Auf Ehre und Gewissen
hatte sie vor Erschöpfung Mühe, den Schlüssel ins Schloß zu bekommen. Als sie eintrat, begann gerade die alte Standuhr im Entre zu schlagen. Es war neun.
Sie ließ Schirm und Mantel einfach bei der Tür liegen und ging ins Arbeitszimmer. Sie war so durchgefroren, daß sie die Wärme zunächst gar nicht aufnehmen konnte. Das Feuer im Kamin brannte nicht, sie wollte es anzünden, ließ sich statt dessen jedoch auf Simons Sitzpolster fallen, zog die Knie zur Brust hoch und starrte so hockend den ordentlich aufgeschichteten Haufen Scheite im Kamin an, ohne einen Finger zu rühren.
Sie hatte Simon seit dem Morgen nicht gesehen. Ihr Gespräch war kurz gewesen, so distanziert und förmlich wie ihr Abschied am Vortag. Simon hatte keinen Versuch gemacht, seine Termine zu verlegen. Er hatte sich nicht erboten, zu Hause zu bleiben für den Fall, daß sie ihn brauchen sollte. Es war, als hätte er ihren Wunsch, eine Schranke zwischen ihnen aufzurichten, endlich anerkannt und hätte beschlossen, ihr ihren Willen zu lassen. Er wehrte sich nicht gegen ihre Entschlossenheit, sich abzukapseln, doch sie wußte, daß ihr Handeln, gerade weil er es nicht verstehen konnte, ihn keineswegs unberührt ließ.
Während Deborah im Arbeitszimmer vor dem kalten Kamin kauerte, sagte sie sich verzweifelt, daß es eine Form der Täuschung und des Verrats gab, die jenseits von Vergeben und Vergessen war.
Sie schlang die Arme fest um die hochgezogenen Beine, legte den Kopf auf die Knie und wiegte sich hin und her, um Trost zu finden, aber sie fand nur den Schmerz.
»Havers und ich fahren morgen wieder zur Schule hinaus und spielen dem Direktor das Band vor.«
»Dann bist du also der Ansicht, daß der chinesische Faktor nicht von Belang ist?«
»Das nicht. Ich kann ihn nicht einfach abtun. Aber im Augenblick erscheint mit das Band ein überzeugendes Motiv zu liefern. Wenn wir die Stimme identifizieren können - ob es nun die eines Schülers oder eines Lehrers ist -, werden wir, denke ich, der Wahrheit ein Stück näher sein.«
Deborah hörte ihre Schritte auf der Treppe. Gleich würden sie an der offenen Tür des Arbeitszimmers vorbeigehen. Sie schreckte vor einer Begegnung zurück, aber es gab kein Entkommen; sie gingen nicht einfach vorüber, sondern sie traten gemeinsam ein.
»Deb!« rief Lynley bestürzt.
Sie blickte auf und strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht.
»Ich bin in den Regen gekommen«, erklärte sie mit einem mühsamen Lächeln. »Und jetzt hocke ich hier und versuche, die Energie aufzubringen, Feuer zu machen.«
Sie sah, wie Simon zur Bar ging und einen Brandy einschenkte. Lynley kam zu ihr an den Kamin, nahm die Streichhölzer vom Sims und zündete Papier und Späne unter dem Holzhaufen an.
»Zieh wenigstens deine Schuhe aus, Deb«, sagte er.
»Sie sind ja völlig durchnäßt. Und deine Haare -«
»Laß sie doch, Tommy.« Simons kurze Bemerkung besagte nichts. Aber die Tatsache, daß er so dazwischengefahren war -völlig ungewohnt an ihm -, sprach Bände. Er brachte Deborah den Brandy. »Hier, trink das, Liebes. Dein Vater hat dich nicht gesehen?«
»Nein, ich bin eben erst gekommen.«
»Dann solltest du dich vielleicht umziehen, ehe er dich zu Gesicht bekommt. Weiß Gott, was er tun - oder denken - wird, wenn er dich so sieht.«
Simons Ton war liebevoll, verriet nichts als Fürsorge. Aber Lynley, das entging Deborah nicht, blickte forschend von einem zum anderen. Sie sah, wie er zum Sprechen ansetzte, und beeilte sich, ihm zuvorzukommen.
»Du hast recht. Ich nehme den Brandy gleich mit.«
Ohne auf eine Erwiderung zu warten, stand sie auf, sagte »Gute Nacht, Tommy« und gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange. Seine Hand schloß sich kurz um ihren Arm. Sie wußte, daß er sie fragend ansah, sie spürte seine Besorgnis, aber sie wich seinem Blick aus und machte sich, um einen würdevollen Abgang bemüht, auf den Weg zur Tür.
Ihre Schuhe quietschten laut, als sie über den Teppich ging. Selbst der würdevolle Abgang war ihr verwehrt.
St. James ging die Treppe zur Küche hinunter. Er hatte trotz Cotters laut geäußerter Mißbilligung nichts zu Abend gegessen und fühlte eine Leere in sich, die sich, wenn sie auch mit Hunger auf körperliche Nahrung nichts zu tun hatte, durch eine provisorische Mahlzeit vielleicht beheben lassen würde.
Nur Hund und Katze waren in der Küche, der Dackel in seinem Korb, die Katze auf dem Herd, und beide blickten ihm hoffnungsvoll entgegen. St. James ging zum
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