03 - Auf Ehre und Gewissen
weil er es mit einer halben Maßnahme versuchte. Sag mir den Namen seines Mörders.«
»Ich kann nicht. Nein. Ich kann nicht!« keuchte Harry.
»Doch, du kannst. Du mußt. Sag mir den Namen.«
Harry wand sich unter Lynleys Hand, versuchte zu entkommen. Er drückte den Kopf an die Brust, hob die Arme, versuchte, Lynleys Hände von seiner Schulter zu reißen.
»Sag mir den Namen«, wiederholte Lynley ruhig.
»Sieh dir diesen Raum an, Harry. Sag mir den Namen.«
Harry hob den Kopf. Lynley wußte, daß er sich ein letztes Mal das Zimmer ansah - den Schmutz, den Müll, die fleckigen Wände mit ihren zotigen Bildern. Er spürte, wie Harry sich aufrichtete und einmal tief Atem holte.
»Chas Quilter«, brachte er weinend hervor.
18
Sie fanden Chas Quilter schließlich in seinem Zimmer. Eigentlich hätte er dort gar nicht sein dürfen. Er hatte an diesem Morgen Biologieunterricht, und sie waren auf der Suche nach ihm zunächst in das naturwissenschaftliche Gebäude gegangen. Als sie ihn dort nicht gefunden hatten, hatten sie ihn in der Kapelle, im Theaterbau und auf der Krankenstation gesucht, ehe sie schließlich den Weg zum Haus Ion eingeschlagen hatten.
Es war der am weitesten nördlich gelegene Bau auf dem Gelände, und er unterschied sich von den anderen Häusern durch einen ebenerdigen Anbau, der auf der Ostseite hervorsprang. Auf dem Schild an der geschlossenen Tür dieses Flügels stand »Oberstufen-Club - Nur für Mitglieder«. Es lockte Lynley, sich den Clubraum drinnen anzusehen.
Er war nichts Besonderes - ein einziger großer Raum mit einer Reihe von Fenstern, durch die man jenseits des Rasens Haus Kalchas sah. Das Mobiliar bestand aus vier alten gepolsterten Sofas, einem Billardtisch, einer Tischtennisplatte, drei Tischen aus rohem Holz, in die überall Initialen eingeritzt waren, und einem Dutzend billiger Plastikstühle. An einer Wand standen ein Fernsehapparat und ein Videorekorder, auf einem Regal daneben eine Stereoanlage. Die ganze Länge einer anderen Wand nahm eine Bar ein.
»Und was hält die Knaben davon ab, hier reinzukommen und sich ein Glas Bier zu holen, wann immer sie Lust drauf haben?« fragte Barbara, als sie zur Bar traten.
»Das Ehrgefühl«, meinte sie sarkastisch, »wird's ja wohl nicht sein?«
»Nein, nach dem, was ich hier in den letzten Tagen gesehen habe, halte ich das auch für unwahrscheinlich.«
Lynley inspizierte die drei Zapfhähne hinter dem Tresen. »Sie scheinen festgestellt zu sein. Den Schlüssel wird einer der Jungen haben, die an der Schule was zu sagen haben.«
»Chas Quilter zum Beispiel? Ein äußerst tröstlicher Gedanke.«
An den Tresen gelehnt, schaute Lynley zu den Fenstern hinüber. »Von hier aus kann man Kalchas sehen, Havers. Man kann es wahrscheinlich von jeder Stelle im Raum aus sehen.«
»Nur der eine oder andere Baum ist im Blickfeld.«
»Der Fußweg zum Haus liegt größtenteils offen da.«
»Ja, das sehe ich.« Sie folgte, wie meistens, mühelos seinem Gedankengang. »Dann wäre also jeder, der am Freitag abend, während der Club hier tagte, zum Haus Kalchas rüberging, von diesen Fenstern aus zu sehen gewesen. Der Fußweg ist doch beleuchtet, nicht? Und« - Barbara blätterte geschwind in ihrem Block - »Brian Byrne hat uns gesagt, daß Chas Quilter während der Fete mindestens dreimal hinausgegangen ist. Er behauptete, zum Telefonieren. Aber vielleicht ist er in Wirklichkeit abgehauen, um sich um Matthew zu kümmern. Wenn Brian zum Beispiel hier saß und ihn auf dem Fußweg gesehen hat, dann wird er versucht haben, ihn zu schützen, nicht?«
»Kommen Sie, schauen wir, ob wir ihn finden können«, sagte Lynley statt einer Antwort.
Durch eine Verbindungstür gelangten sie aus dem Anbau in den Aufenthaltsraum von Ion. Im ersten Stock stießen sie auf eine Putzfrau, die ihnen erklärte, daß Chas Quilters Zimmer im zweiten Stock sei. Abgesehen von gedämpfter Musik, die aus einem der Zimmer drang, war es dort oben völlig still.
Sie folgten der Musik. Lynley blieb stehen und lauschte einen Moment an der Tür, ehe er klopfte. Als sich nichts rührte, machte er einfach die Tür auf und trat mit Barbara ein.
Das Zimmer war eine Überraschung, nicht das, was man bei einem Achtzehnjährigen erwartet hätte. Die Grundeinrichtung entsprach dem an der Schule Üblichen, aber den Linoleumboden bedeckte ein Donegalteppich, und an den Wänden hingen nicht Poster oder Fotografien, sondern gerahmte literarische Zitate. Sie waren kreisförmig
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