03 - Auf Ehre und Gewissen
ihn mißhandelt hat. Ich kann Pritchard allein daraufhin, daß Chas Quilter seine Stimme erkannt hat, nicht verhaften, Mr. Lockwood. Ich kann Ihnen nur raten, gut auf ihn aufzupassen.«
»Gut auf ihn aufpassen!« zischte Lockwood wütend.
»Sie wissen genau, daß er den Jungen umgebracht hat.«
»Ich weiß nichts dergleichen. Wenn ich einen Menschen festnehme, verlasse ich mich auf Beweise, nicht auf Intuition.«
»Sie bringen sechshundert Schüler in Gefahr, ist Ihnen das eigentlich klar? Wenn Sie diesen Burschen nicht aus der Schule entfernen, kann weiß Gott was passieren. Ich übernehme keine Verantwortung -«
»Sie sind aber verantwortlich«, unterbrach Lynley.
»Daran ist nicht zu rütteln. Aber Clive weiß, daß er unter Verdacht steht. Er wird unter diesen Umständen sicher nichts wagen. Zumal er offenbar glaubt, wir hätten bisher nichts in der Hand, um zwischen ihm und Matthew Whateley eine Verbindung herzustellen.«
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach mit ihm tun, bis Sie soweit sind, daß Sie ihn verhaften können?«
»Ich schlage vor, Sie stellen ihn unter Stubenarrest und postieren jemanden vor seinem Zimmer, der darauf achtet, daß er es nicht verläßt.«
»Und das soll ausreichen?« fragte Lockwood. »Er ist ein Mörder! Das wissen Sie doch.« Lockwood wies auf den Umschlag unter Lynleys Arm. »Und diese Dinger da? Was haben Ihre Nachforschungen über die Bilder erbracht, Inspector?«
Nun war die Entscheidung doch ganz leicht.
»Miss Bond fand sie in ihrem Klassenzimmer«, antwortete er. »Offenbar hatte ein Schüler sie liegenlassen. Sie konnte nicht sagen, wer es war. Sie hielt es für das Beste, sie zu verbrennen.«
Lockwood schnaubte befriedigt. »Na, wenigstens gibt es noch ein paar Leute, die ihren Verstand gebrauchen.«
Es fing wieder zu regnen an, als Barbara Lynleys Bentley vor der Kapelle anhielt. Sie trat so hart auf die Bremse, daß der Wagen schleuderte und mit dem Heck die kahlen Äste eines Hortensienbusches streifte. Lynley zuckte zusammen wie unter einem Schlag.
Mit einer Tüte Chips in der Hand stieg sie aus und wischte sich die Krümel vom Pullover.
»Das ist mein Mittagessen«, erklärte sie, als Lynley ihr entgegenkam. »Zwei Beutel Chips und ein Glas Bitter Lemon. Ich sollte Härtezulage kriegen.« Sie knallte die Wagentür zu. »Das ist ja ein fürchterliches Monstrum, Inspector. Da hat kaum noch ein anderer Platz auf der Straße. In Cissbury hätte ich beinahe eine Telefonzelle mitgenommen, und gleich hinter der Schule hab ich einen alten Meilenstein gerammt. Wenigstens glaub ich, daß es einer war. Nichts Lebendiges jedenfalls.«
»Sehr tröstlich«, sagte Lynley und holte seinen Schirm vom Rücksitz. »Und was haben Sie in Cissbury erfahren?«
Im Schutz von Lynleys Schirm machten sie sich auf den Weg zum Haus Kalchas. In den Unterrichtsgebäuden läutete es zur nächsten Stunde. Einen Moment lang wimmelte es um sie herum von blau-gelb gekleideten Schülern, die im Regen an ihnen vorbeirannten. Barbara sprach erst, als der Fußweg wieder leer war.
»Soweit sich feststellen ließ, stimmt Clives Geschichte, Sir. Der Wirt vom Sword and Garter sah ihn am Samstag abend lang nach der Polizeistunde bei der Mülltonne. Er konnte nicht genau erkennen, was Clive dort trieb, aber, um seine Worte zu gebrauchen: ›Ganz gleich, was es war, der Kleinen, mit der er's machte, schien's zu gefallen.‹«
»Ist bei der Mülltonne Licht?«
Barbara schüttelte den Kopf. »Und der Wirt konnte den Jungen, den er gesehen hat, auch nur ziemlich allgemein beschreiben, was Größe und Körperbau angeht. Das Mädchen kannte er nicht, konnte nichts über sie sagen. Mit anderen Worten, es muß nicht unbedingt Clive gewesen sein.«
»Es könnte auch ein anderer Junge aus der Schule gewesen sein«, stimmte Lynley zu.
Sie griff den Gedanken mit einem Enthusiasmus auf, der nahelegte, daß er ihr schon eine ganze Weile im Kopf herumging. »Es kann ein Junge gewesen sein, den Clive kannte. Er schlich sich Samstag abend davon, um im Dorf ein Mädchen zu treffen. Vielleicht gab er hinterher bei Clive mit seinem Abenteuer an und erzählte ihm Einzelheiten über die Begegnungen bei der Mülltonne.«
Lynley sah, daß diese Theorie zwar verlockend war, aber wohl nicht zu halten. »Klingt gut«, sagte er, »aber wenn's hart auf hart geht, Havers, wird Clive uns, denke ich, auch den Namen des Mädchens sagen. Und sie wird seine Aussage bestätigen. Und dann stehen wir wieder da, wo wir
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