03 - Auf Ehre und Gewissen
dargestellt waren, die ein ohnmächtiges Kind mißbrauchten. Obwohl Lynley es schon gesehen hatte, konnte er sich der bedrückenden Wirkung von Corntels letzten Worten und ihrer tieferen Bedeutung nicht entziehen.
»John«, sagte er, »du brauchst -«
»Hilfe?« Corntel lächelte. »Das ist für Leute, die ihr Leiden nicht kennen. Ich kenne das meine, Tommy. Ich habe es immer gekannt. Es äußert sich überall in meinem Leben. Mein Leben lang habe ich immer nur Kraft weitergegeben - an meinen Vater, an meine Mutter, meine Schulkameraden, meine Vorgesetzten. Niemals bin ich selbst aktiv geworden. Ich bin unfähig dazu.«
Corntel legte die Bilder weg. »Selbst in der Beziehung zu Emilia.«
»Ihre Geschichte vom Freitag abend deckt sich nicht mit deiner, John.«
»Nein. Natürlich nicht. Ich bin - Tommy, ich mußte dir doch irgend etwas sagen. Ich wußte, du würdest früher oder später erfahren, wie außer sich sie war, als sie am Freitag abend von mir wegging, darum erfand ich einen Grund. Impotenz erschien mir - ich hatte doch keine andere Wahl. Und was spielt es schon für eine Rolle? Was ich dir gesagt habe, war der Wahrheit so nahe wie - soll ich es dir jetzt sagen? Es war - wir schafften es. Mit knapper Not. Sie war sehr rücksichtsvoll.«
»So wie sie es mir erzählte, hatte ich nicht den Eindruck, daß es mit Rücksicht etwas zu tun hatte.«
»Nein, das glaube ich nicht. Das ist nicht ihre Art. Sie ist ein guter Mensch, Tommy. Als sie sah, wie schwierig es - alles für mich war, übernahm sie gewissermaßen die Führung. Und ich ließ es zu. Ich überließ alles ihr. Und als sie Samstag abend wiederkam und nach den Fotos fragte, besser gesagt, sie verlangte, da gab ich ihr auch die. Wie ein braver Junge. Ich bin kein Mann. Ich bin überhaupt nichts.«
Lynley hatte hundert Fragen an Corntel. Mehr als alles andere hätte er verstehen wollen, wie ein junger Mann, der eine so glänzende Zukunft vor sich gehabt hatte, sich zu dem hatte entwickeln können, den er jetzt vor sich sah. Er hätte gern verstanden, was es war, das eine Welt verzerrter Phantasie anziehender machte als eine lebendige Beziehung zu einem anderen Menschen. Einen Teil der Antwort wußte er. Das Leben in der Phantasie bot Sicherheit, ganz gleich, wie abartig es war. Es barg keinerlei Risiko in sich. Man mußte sich niemals wirklich einlassen und darum konnte man niemals wirklich verletzt, in der Seele getroffen werden. Aber der Rest der Antwort blieb in Corntel verschlossen, vielleicht sogar ihm selbst unerklärlich.
Er hatte das Bedürfnis, dem alten Schulfreund irgendwie Trost zu spenden, seine Scham darüber, sich so entblößt zu sehen, zu mindern. Er sagte: »Emilia liebt dich.«
Corntel schüttelte den Kopf. Er sammelte die Bilder ein und schob sie wieder in den Umschlag, um ihn Lynley zurückzugeben. »Sie liebt das Bild von John Corntel, das sie sich geschaffen hat. Den wahren Menschen kennt sie nicht einmal.«
Sehr langsam ging Lynley die Treppe hinunter, in Gedanken noch immer bei seinem Gespräch mit John Corntel. Er hatte das Gefühl, in den vergangenen drei Tagen Zuschauer eines Dramas geworden zu sein, in dem sich Corntel wie durch Nebelschleier in immer wechselnden Rollen zeigte.
Lynley war sich völlig bewußt, daß er nicht imstande war, die persönlichen Dinge, die in seine Beziehung zu Corntel mit hereinspielten, einfach zu ignorieren. Sie waren ein Stück Wegs gemeinsam gegangen. Die Verbundenheit durch die gemeinsame Schulzeit würde immer bestehen bleiben.
Lynley klemmte den Umschlag mit den Fotografien fester unter den Arm. Er mußte sich entscheiden. Aber er konnte es nicht.
»Inspector!« Alan Lockwood wartete am Fuß der Treppe. »Kann ich heute nachmittag mit einer Verhaftung rechnen?«
»Wenn die Spurensicherung -«
»Zum Teufel mit der Spurensicherung! Ich möchte Clive Pritchard endlich loshaben. Heute abend tritt der Verwaltungsrat zusammen. Ich möchte, daß die Sache aufgeklärt ist, bevor die Mitglieder eintreffen. Weiß der Himmel, wann hier ein Angehöriger Pritchards erscheinen wird, um ihn zu holen. Solange möchte ich ihn auf keinen Fall hier behalten. Das werden Sie wohl verstehen.«
»Durchaus«, antwortete Lynley. »Leider haben wir bis jetzt nicht mehr gegen ihn als eine Tonbandaufnahme, auf der seine Stimme zu erkennen ist. Wir haben keinen einzigen Beweis dafür, daß er Matthew Whateley etwas angetan hat, und selbst Harry Morant ist nicht bereit, den Namen des Jungen zu nennen, der
Weitere Kostenlose Bücher