03 - Auf Ehre und Gewissen
bei seiner Mutter. Seit Jahren schon. Mr. Byrne ist geschieden.«
»Kann es sein, daß Matthew für Mr. Byrne ein Ersatz für den eigenen Sohn war?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Mr. Byrne hat Mattie nur selten gesehen. Er hat ihn vielleicht mal auf dem alten Anger getroffen, wenn er einen Spaziergang machte und Mattie dort spielte. Mattie hat da oft gespielt. Aber er hat nie was davon erzählt, daß er Mr. Byrne getroffen hatte. Ich erinnere mich jedenfalls nicht.«
»Brian erzählte uns, daß sein Vater einmal einen Jungen namens Edward Hsu sehr gefördert hat. Er sagte, sein Vater hätte seit 1975 einen Ersatz für Edward Hsu gesucht. Verstehen Sie, was das heißt? Könnte Matthew der Nachfolger eines Jungen gewesen sein, den Giles Byrne vielleicht übermäßig gern hatte?«
Patsy reagierte auf die Frage mit einer winzigen Bewegung, die Lynley wahrscheinlich gar nicht bemerkt hätte, wenn er nicht ihre Hände beobachtet hätte. Sie umkrampften einmal kurz den Stoff des Morgenrocks und entspannten sich wieder. »Mattie hat Mr. Byrne nie gesehen, Inspector. Jedenfalls nicht, daß ich wüßte.«
Es klang eindringlich und überzeugt, aber Lynley wußte, daß Kinder ihren Eltern selten alles erzählen. Er dachte wieder an das, was Kevin Whateley ihm über die Veränderung von Matthews Verhalten berichtet hatte. Irgendwo gab es eine Erklärung. Hinter jeder Veränderung steht eine treibende Kraft.
Nur einen Bereich hatte er bisher beim Gespräch mit Patsy nicht berührt, da er wußte, welchen Schmerz er ihr bereiten würde.
»Mrs. Whateley, ich weiß, es ist schwer für Sie, das zu akzeptieren, aber es scheint, daß Matthew tatsächlich aus dem Internat weggelaufen ist. Oder daß er zumindest weglaufen wollte und sich mit jemandem verabredete, der -« Er zögerte, verunsichert, weil es ihm solche Schwierigkeiten bereitete, zum Kern zu kommen.
Havers sprang für ihn ein. »Mit jemandem, der ihn tötete«, sagte sie ruhig und klar.
»Das kann ich nicht glauben«, antwortete Patsy. »Mattie wäre niemals weggelaufen.«
»Aber wenn er belästigt worden wäre, wenn man ihn terrorisiert hätte ...«
»Terrorisiert?« Sie sah Lynley verständnislos an. »Was meinen Sie damit?«
»Sie haben ihn in den Ferien gesehen. Hatte er irgendwelche Male? Blaue Flecken, Blutergüsse oder dergleichen?«
»Aber nein, natürlich nicht. Ja, glauben Sie denn, er hätte es mir nicht gesagt, wenn ihn jemand geschlagen hätte? Glauben Sie, er hätte mir nicht vertraut? Seiner eigenen Mutter!«
»Vielleicht nicht. Weil er wußte, wie wichtig es für Sie war, daß er in Bredgar Chambers blieb. Es könnte sein, daß er nichts sagte, weil er Sie nicht enttäuschen wollte.«
»Nein!« Das eine Wort war viel mehr als eine bloße Verneinung. »Warum sollte jemand unseren Mattie quälen wollen? Er war so ein guter Junge. Er hat immer getan, was von ihm erwartet wurde. So ein braver kleiner Kerl. Warum hätte ein Mensch Mattie gemein behandeln sollen?«
Weil er nicht paßte, dachte Lynley. Weil er sich nicht für die Traditionen interessiert hatte. Weil er sich nicht in die Schablone pressen ließ. Aber die Geschehnisse in Bredgar Chambers hatten noch andere Hintergründe. Die Jungen hatten alle Angst. Aber anders als bei Matthew war ihre Angst nicht so groß, daß sie davonliefen.
Das schmale Backsteinhaus in der Rivercourt Road war dunkel. Trotz dieses eindeutigen Zeichens dafür, daß niemand zu Hause war, stürmte Kevin Whateley grimmig durch das Tor, rannte die Treppe hinauf und schlug mit dem Messingklopfer gegen die Tür. Aber noch in der Bewegung war ihm klar, daß es vergeblich war. Die lauten Schläge widerhallten in der Straße.
Er würde Giles Byrne sprechen. Und zwar noch heute abend. Er würde toben und brüllen und schreien und den Mann fertigmachen, der an Matties Tod schuld war. Mit geballten Fäusten trommelte er an die Tür.
»Byrne!« brüllte er. »Verdammt noch mal, Sie Schwein! Kommen Sie raus, Sie! Machen Sie die Tür auf! Sie schwules Schwein. Hören Sie mich, Byrne? Machen Sie auf! Sofort!«
An der Ecke auf der anderen Straßenseite fiel ein schmaler Lichtstrahl auf den Bürgersteig, als vorsichtig eine Tür geöffnet wurde. »Ruhe!« schallte es.
»Hau ab!« schrie Whateley, und die Tür wurde hastig geschlossen.
Zwei große Terrakottatöpfe standen zu beiden Seiten der Tür auf der Treppe. Als sich im Haus auf seine wütenden Aufforderungen nichts rührte, hielt Whateley einen Moment inne. Sein
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