03 - Auf Ehre und Gewissen
gerichtet, die am Holz züngelten. Ein Glas Brandy stand unberührt auf dem Tisch neben ihr. Es war ihr genug gewesen, das schwere Aroma einzuatmen.
Nach Lynleys Besuch am frühen Morgen hatte sie fast den ganzen Tag allein verbracht. Simon war kurz vor Mittag zu einer Besprechung gefahren, von dort weiter zu einem Termin am Chelsea Institute, danach zu einer Sitzung mit mehreren Anwälten, die sich auf die Verteidigung eines Mannes vorbereiteten, der des Mordes angeklagt war. Er hatte keinen dieser Termine wahrnehmen wollen und war im Begriff gewesen, den ersten heimlich abzusagen, als Deborah ihn dabei ertappt und daran gehindert hatte. Sie wußte, daß er seine Arbeit nur vernachlässigte, um bei ihr bleiben zu können, falls sie ihn brauchen sollte.
Eine kaum auszuhaltende Distanz hatte ihn beim Abschied von ihr getrennt. Er kam zur Tür der Dunkelkammer, das lockige schwarze Haar ungebändigt wie immer, und sagte nur sehr wenig.
»Ich fahre jetzt, Deborah. Ich glaube nicht, daß ich zum Abendessen wieder da bin, wenn die Besprechung um fünf wie die neulich verläuft.«
»In Ordnung. Ja.« Liebster, hätte sie so gern hinzugefügt, aber die Kluft zwischen ihnen war schon so groß. Wäre diese Kluft nicht dagewesen, sie wäre zu ihm gegangen, hätte ihm über das Haar gestrichen und ihn lächelnd angesehen, innig seinen Kuß erwidert, wenn er sie in die Arme genommen hätte, Zärtlichkeit mit Zärtlichkeit vergolten. Ja, zu einer anderen Zeit, unter anderen Umständen. Jetzt konnte nur Distanz ihn schützen, und seine Nähe war die gefährlichste Verlockung, endlich zu sprechen.
Draußen wurde eine Wagentür zugeschlagen. Sie ging zum Fenster und hoffte, es würde Simon sein, obwohl sie wußte, daß er es nicht sein konnte. Sie sah den silbernen Bentley am Bordstein, sah Lynley die fünf Stufen zur Haustür hinaufkommen. Sie ging, um ihm zu öffnen.
Er sah erschöpft aus. Winzige Kerben prägten die Haut an seinen Mundwinkeln.
»Hast du schon etwas gegessen, Tommy?« fragte sie, während er seinen Mantel aufhängte. »Soll ich Vater bitten, dir etwas zu machen? Es ist keine Mühe, und ich seh dir an, daß es höchste Zeit ist ...«
Sie brach ab, als er sich nach ihr umdrehte. Sie kannte ihn zu gut; vor ihr konnte er nicht verbergen, wie nah ihm dieser Fall ging. Sie las es in seinen Augen, in der Haltung seiner Schultern, in den Schatten der Trostlosigkeit auf seinem Gesicht.
Sie gingen ins Arbeitszimmer, wo er sich einen kleinen Whisky einschenkte.
»Der Fall muß schrecklich sein für dich. Ich wünschte, ich könnte etwas tun. Ich habe ständig drüber nachgedacht. Irgendwo muß es doch eine Kleinigkeit geben, die ich übersehen habe. Irgend etwas, das dir weiterhilft. Wenn ich mich nur erinnern könnte. Aber es fällt mir nichts ein.«
Er trank den Whisky in einem Zug hinunter und stellte das Glas wieder auf das Tablett.
»Simon ist nicht hier«, fuhr sie fort. »Er hat wieder mal einen Tag voller Termine. Ich weiß nicht, wann er zurückkommt. Tommy, möchtest du wirklich nichts essen? Vater ist in der Küche. Es dauert höchstens einen Moment -«
»Was ist mit dir los, Deb?«
Die Frage, mit liebevoller Anteilnahme gestellt, traf sie unerwartet, eine Bedrohung ihrer Abwehr. Deborah fühlte sich bedrängt. Nichts sagen, auf keinen Fall etwas sagen.
»Ich habe mir eben die Probeabzüge der Aufnahmen von meiner Reise angesehen.« Sie kehrte zum Sessel zurück, setzte sich und nahm die Fotografien wieder zur Hand. »Während ich an der Arbeit war, habe ich mich gefragt, ob sie dir vielleicht helfen können, Tommy. Ich meine, die Aufnahmen von Stoke Poges.«
Lynley sah sie so beharrlich an, daß ihr unbehaglich wurde. Er zog Simons knubbliges Sitzpolster näher zum Sessel und setzte sich. Deborah griff nach ihrem Brandy und trank endlich. Der Alkohol schoß ihr wie Feuer durch die Kehle.
»Ich wollte dir sagen, wie leid es mir tut«, bemerkte er, »aber ich kam nicht dazu. Du warst im Krankenhaus. Und das nächste, was ich hörte, war, daß du abgereist warst. Deb, ich weiß, was das Kind dir bedeutete. Euch beiden bedeutete.«
Sie spürte den Druck aufsteigender Tränen. Er wußte es nicht. Würde es nie erfahren. »Bitte, Tommy«, sagte sie kurz.
Die beiden Worte genügten anscheinend. Er schwieg einen Moment, dann nahm er die Fotografien und zog seine Brille aus der Jackentasche. Mit ihrem Vergrößerungsglas wies er auf ein Bild. »Stoke Poges. Die Kirche St. Giles. Das Problem ist, daß
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