03 - Auf Ehre und Gewissen
von der Unterführung hinunter in die Straße. Die Dunkelheit kam rasch, und während sie auf den Fluß zugingen, flammten die Lichter auf der Hammersmith Bridge auf und überzogen das Wasser mit dunklem Glanz.
Schweigend stiegen sie die Treppe zur Uferstraße hinunter, stellten gegen den scharfen Wind ihre Mantelkragen auf und steuerten auf das alte Fischerhaus neben dem Royal Plantagenet zu. Die Vorhänge waren zugezogen, doch dahinter schimmerte Licht. Sie traten in den niedrigen Durchgang zwischen dem Häuschen und dem Pub, und Lynley klopfte an die Tür. Diesmal wurde im Gegensatz zum vergangenen Abend sofort der Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet. Patsy Whateley stand vor ihnen.
Wie bei Lynleys erstem Besuch trug sie den Nylonmorgenrock mit den dämonischen Drachen, und an den Füßen hatte sie dieselben grünen Hausschuhe. Ihr Haar war unfrisiert, einfach mit einem schmutzigen Schnürsenkel zurückgebunden. Als sie Lynley und Havers sah, hob sie eine Hand, als wolle sie sich das Haar glätten oder den klaffenden Ausschnitt ihres Morgenrocks zusammenziehen. Ihre Hände waren mehlbestäubt.
»Ich hab Plätzchen gebacken«, sagte sie. »Mattie hat sie immer so gern gegessen. Nach den Ferien hat er eine ganze Dose voll in die Schule mitgenommen. Am liebsten mochte er Ingwerplätzchen. Ich war - heute -« Sie blickte auf ihre Hände und rieb sie aneinander. Feiner Mehlstaub rieselte zu Boden. »Mein Mann ist heute morgen in die Arbeit gegangen. Ich hätte auch gehen sollen, ja. Aber ich konnte nicht. Es wäre so endgültig gewesen. Und ich dachte, wenn ich die Plätzchen backe ...«
Lynley verstand. Er stellte Barbara Havers vor. »Dürfen wir hereinkommen, Mrs. Whateley?«
Sie zwinkerte verwirrt. »Ach - entschuldigen Sie, ich war so in Gedanken.« Sie trat von der Tür zurück.
Der Geruch der frischgebackenen Plätzchen hing im Wohnzimmer. Aber es war sehr kalt. Lynley schaltete den Heizofen im offenen Kamin ein. Leise summend röteten sich die Spiralen.
»Es ist schon spät, nicht wahr?« bemerkte Patsy.
»Möchten Sie nicht eine Tasse Tee? Ich mache welchen. Und ein paar Plätzchen dazu. Ich habe so viele gebacken, daß mein Mann und ich sie allein gar nicht essen können. Mögen Sie Ingwer?«
Lynley hätte am liebsten gesagt, sie solle sich keine Umstände machen, aber er ahnte, daß sie die alltägliche Geschäftigkeit brauchte, um die Zeit der Trauer, die doch unausweichlich war, möglichst lange hinauszuschieben. Er antwortete ihr nicht, und sie ging zu dem Regal, auf dem ihre Tassensammlung stand.
»Waren Sie schon einmal in St. Ives?« Sie strich sachte über den Henkel einer Tasse.
»Ich bin in der Nähe von St. Ives aufgewachsen«, antwortete Lynley.
»Dann stammen Sie aus Cornwall?«
»So kann man sagen, ja!«
»Dann bekommen Sie die Tasse aus St. Ives. Und für Miss Havers - Stonehenge. Ja, Stonehenge ist gut. Waren Sie schon einmal dort, Miss Havers?«
»Einmal, auf einem Schulausflug«, antwortete Barbara.
Patsy nahm beide Tassen mit ihren Untertassen. »Ich versteh gar nicht, warum sie Stonehenge eingezäunt haben. Früher konnte man einfach über die weiten, flachen Felder laufen, und dann sah man es plötzlich vor sich. Die riesigen Steine. Ganz still. Nur der Wind. Aber als wir mit Mattie dort waren, konnte man es nur aus der Ferne anschauen. Jemand erzählte, daß es einmal im Monat erlaubt sei, direkt zu den Steinen zu gehen. Wir wollten später noch mal mit Mattie hinfahren. Wir dachten, wir hätten Zeit. Wir wußten nicht ...« Sie hob den Kopf. »Der Tee.«
»Ich helfe Ihnen«, sagte Barbara und folgte ihr nach hinten in die Küche.
Allein im Zimmer, ging Lynley zu dem Regal unter den Fenstern. Er sah, daß seit dem vergangenen Abend zwei neue Skulpturen hinzugekommen waren. Sie waren von gänzlich anderer Art als die Akte drum herum.
Beide waren aus Marmor gearbeitet. Bei ihrer Betrachtung fühlte sich Lynley an Michelangelos Wort erinnert, daß das Objekt, das aus dem Stein geschaffen werde, von Anfang an im Stein eingeschlossen sei und es Aufgabe des Künstlers sei, als Befreier zu wirken. Er innerte sich, eine ähnliche Skulptur in Florenz gesehen zu haben, ein unfertiges Werk, wo Kopf und Rumpf sich aus dem Marmor herauszuheben schienen. Die beiden Arbeiten auf dem Regal waren ähnlich, nur daß die sich herauslösenden Figuren geschliffen und poliert waren - Zeichen der Vollendung -, während der restliche Stein in seinem Naturzustand belassen
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