03 - Der Herr der Wölfe
verschwinden, Graf Sur-le-Mont.«
Erst jetzt erkannte Melisande, dass sie die Gelegenheit nutzen musste, solange sie nicht geknebelt war. Sie holte tief Luft und schrie. Sofort wurde ihr Mund wieder verschlossen.
»Und wenn sie den Knebel abschüttelt und wieder zu schreien versucht?« fragte Jon.
»Das wird ihr nicht gelingen«, versprach Geoffrey, ergriff einen Kerzenleuchter aus Messing, der auf der Truhe am Fußende des Betts stand, und schlug ihn so kraftvoll auf Melisandes Kopf, dass ihr die Sinne schwanden.
Irgendwann kam sie wieder zu sich, immer noch gefesselt und in die Felldecke gewickelt, über einen Pferderücken geworfen. Offensichtlich war es den Entführern geglückt, sie unbemerkt aus der Festung zu bringen. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie sich jetzt befand.
»Ah, du, bist wach, meine Schöne!« Geoffreys heisere Stimme drang in ihr Ohr. »Bald sind wir am Ziel. -Wo, würdest du fragen - wenn du nur könntest. Ich meine die Ruinen der alten römischen Festung, wo dein Vater so viele Steine für sein wunderbares Schloss gefunden hat. Dort wird dich der Wikinger nicht aufspüren. Und wenn doch - nun, eine sehr große dänische Truppe wird unsere Stellung verteidigen. Diese Männer werden nach Rouen weiterreiten und später nach Paris. Plündern das ist alles, was sie wollen. Und ich wünsche mir zweierlei Macht und dich. Also muss der Wikinger sterben.«
Plötzlich zügelte er seinen Hengst, sprang aus dem Sattel und zerrte Melisande vom Rücken des braunen Pferds, auf das man sie gelegt hatte. Er nahm ihr den Knebel ab, und sie stolperte über einen Zipfel der Felldecken.
»Ein Mantel!« befahl er und hielt sie fest, ehe sie stürzen konnte. Alle Pelze glitten zu Boden. Beim Überfall im Turmzimmer war es ihm gleichgültig gewesen, dass seine Gefolgsleute Melisandes nackten Körper gesehen hatten. Nun schien er sich an Anstand und Schicklichkeit zu erinnern. Er band ihre Hände los und legte ihr einen Mantel um die Schultern, während einer der Männer die Pelze aufhob.
»Er wird dich töten, Geoffrey«, prophezeite sie, »und dich bis zur Unkenntlichkeit zurichten. Es sei denn, du lässt mich jetzt gehen … «
»Bist du so sicher, dass er dich suchen wird?« unterbrach er sie. »Glaubst du, er liebt dich genug, um alles aufs Spiel zu setzen?«
Kühl erwiderte sie seinen Blick. »Schon oft hat er sein Leben für mich gewagt. «
»Vielleicht. Aber wohl eher für deinen erstrebenswerten Besitz.«
»Er wird mich holen.«
»Weil er dich liebt?« spottete Geoffrey.
»Weil ich ihm gehöre.«
Wütend über ihre Gelassenheit, schüttelte er den Kopf. »Diesmal nicht, verstehst du? Sonst würde er alles opfern.«
Er zerrte sie zu dem braunen Pferd hob sie hinauf; und sie wehrte sich nicht, aus Angst, er könnte ihr einen Arm oder ein Bein brechen, was jeden Fluchtversuch vereiteln würde. Die Zügel in der Hand, starrte er in ihre Augen. »Gilles reitet zu deiner Linken, Jon zu deiner Rechten, meine Teure. Eine falsche Bewegung, und ein Pfeil wird dein Bein durchbohren. Dann könntest du eine Woche lang nicht gehen. Aber das müsstest du gar nicht, um mir alle meine Wünsche zu erfüllen.«
Sie blickte geradeaus. »Wie weit ist es noch?«
»Da vom siehst du die Ruinen im Mondlicht. Es dauert nicht mehr lange.«
Viel zu schnell erreichten sie die römische Festung, wo tatsächlich zahlreiche Dänen zwischen den alten Steinen und fast unsichtbar in den nächtlichen Schatten lagerten. Geoffrey stieg zerbröckelte Stufen hinab, die in einen unterirdischen Raum führten, und seine beiden Gefolgsmänner zerrten Melisande hinter ihm her. Sie biss in Gilles Hand, und er schrie wütend auf. Dann stieß er sie in den feuchten Keller hinab, und sie landete auf einem kalten Felsboden.
Als sie den Kopf hob, sah sie Geoffrey vor sich stehen. Ungerührt lächelte er sie an. »Jetzt muss ich mich um unsere Verteidigung kümmern, Melisande. Aber ich komme. so schnell wie möglich zurück.«
Mühsam schluckte sie. Wie oft hatte sie versucht, gegen Conar zu kämpfen? Jedes Mal Angst und zugleich Begierde, dann wachsende Faszination, das Leid der Trennung, der Eifersucht, neue Furcht. Und immer wieder diese schmerzliche Sehnsucht, die Liebe …
Und jetzt das! Sie wollte sterben. »Er wird mich holen, Geoffrey«, beharrte sie. »Ganz sicher.«
»Das werden wir ja sehen«, erwiderte er grinsend. Dann ging er davon, eine schwere Tür fiel ins Schloss, und Melisande blieb allein in der Finsternis
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