03 - Der Herr der Wölfe
sich überlegen müsste, und es wäre auch überflüssig, wenn sie eine Weile allein bliebe …«
»Weil sie davonlaufen könnte?« fragte Conar und beobachtete lächelnd, wie der alte Mann wortlos den Kopf senkte. »Niemand läuft mir davon, Ragwald. Denn ich laufe schneller. Und in diesem Fall muss sie selbst ihre Entscheidung treffen. Nun, Melisande, braucht Ihr noch etwas Zeit?«
Eines Tages werde ich dir davonlaufen, dachte sie, weit, weit weg. Sie ballte die Hände, schmerzhaft gruben sich ihre Fingernägel ins Fleisch. Aber jetzt hatte sie keine Wahl. Sie musste den Willen ihres Vaters ehren und an all die Menschen denken, für die sie verantwortlich war die Bauern, die Schmiede, die Handwerker, die Milchmädchen, nach dem Tod des Grafen so schwach, so verwundbar … Wenn sie den Wikinger heiratete, würde er ihnen Schutz bieten. »Ich bin bereit, und ich laufe nicht davon«, versicherte sie und lächelte wehmütig. »Und ich könnte die Hochzeit ohnehin nicht verhindern, oder? Wenn ich mich weigere, die Kapelle zu betreten, würde eine Ferntrauung stattfinden. Was immer ich auch sage, es ändert nicht das geringste.«
»Die Kirche verlangt Eure Zustimmung«, entgegnete der rothaarige Wikinger.
Verächtlich schüttelte sie den Kopf. »Das wird zwar behauptet, aber in wirklich wichtigen Dingen hat eine Frau nichts zu bestimmen. Ich erinnere mich an die Hochzeit einer Kusine. Sie war nicht einverstanden, aber ihr Bräutigam packte einfach ihren Kopf und drückte ihn nach unten, so dass sie zum richtigen Zeitpunkt nickte. Würde auch mir eine solche Demütigung drohen?«
»Gewiss nicht, Gräfin … «, begann der Rotschopf.
»Doch, das ist sehr gut möglich.« Conars kühle blaue Augen schienen Melisande zu durchbohren. »Soll es soweit kommen?«
»Warum tut Ihr das?« fragte sie. »Der Gedanke, ein Kind zu heiraten, hat Euch doch gründlich missfallen.«
»Kinder wachsen heran. « Lässig zuckte er die Achseln. »Und ich habe dieses Land erobert. Dafür lohnt es sich, auf meine junge Frau zu warten.«
»Inzwischen könntet Ihr in einer Schlacht fallen«, gab sie zu bedenken, »und ohne einen Erben und Stammhalter sterben. «
»Ihr seid ein sehr kluges Kind, und vielleicht muss ich gar nicht so lange warten. « Ungeduldig wandte er sich ab und ging zu dem großen Tisch, wo die Dokumente lagen. »Hiermit schwöre ich, den Wünschen Graf Manons zu entsprechen, was seine Tochter und sein Eigentum bei, trifft. Das bezeuge ich mit meiner Unterschrift und meinem Siegel. « Er griff nach einem Federkiel und setzte seinen Namenszug auf ein Pergament. Eine Kerze wurde ihm gebracht, Wachs tropfte auf den Vertrag. Der Wikinger drückte den Rind hinein, den er am kleinen Finger trug, und so war das Abkommen rechtskräftig. »Sollen wir jetzt gehen, Melisande?«
»Ist meine Unterschrift nicht erforderlich?«
Langsam schüttelte er den goldblonden Kopf. »Euer Vater hat dieses Dokument bereits unterzeichnet. Das genügt.«
Wieder stieg heißer Zorn in ihr auf. Warum hatte der Vater ihr das angetan und sie einfach in eine Welt hinein gestoßen, in der ihre Gedanken und Wünsche nichts be
deuteten? Melisande biss die Zähne zusammen. in dieser Welt zählte der Wille einer Frau nicht. Sie blieb das Mündel ihres Vaters, bis sie heiratete, und dann wurde der
Ehemann ihr Vormund. Beinahe wäre sie wieder auf den Stuhl gesunken, doch sie beherrschte sich. Der Wikinger würde schon noch merken, dass sie zur Unabhängigkeit erzogen worden war, dass sie gelernt hatte, selbständig zu denken, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Und wenn er das nicht Verstand, würde ihm seine Ehe die Hölle auf Erden bereiten.
»Gehen wir.« Mit schnellen Schritten verließ sie die Halle, fest entschlossen, die Tränen nicht zu vergießen, die hinter ihren Lidern brannten. Vor seinen Augen wollte sie nicht weinen. Aber trotz ihrer Mühe verschleierte sich ihr Blick, als sie die Stufen zum Hof hinabeilte.
Inzwischen war es völlig dunkel geworden, das Klagegeschrei verstummt. Man hatte die Toten vom Schlachtfeld geholt, die Verletzten versorgt. Fackeln verbreiteten ein unheimliches Licht. In dieser Nacht schien kein Mond.
Plötzlich spürte Melisande die Hand des Wikingers an ihrem Ellbogen. »Es macht einen besseren Eindruck, wenn Ihr an der Seite Eures Auserwählten zur Kapelle geht«, sagte er leise.
»Ihr seid der Auserwählte meines Vaters, nicht meiner. «
»An diesem besonderen Abend möchte ich Wortgefechte mit Euch
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