03 - Der Herr der Wölfe
vermeiden.«
»Dann solltet Ihr lieber nicht mit mir sprechen.«
Seine Finger umklammerten ihren Arm etwas fester. Er tat ihr nicht weh, gab ihr nur zu verstehen, dass er die Macht besaß, ihren Kopf vor dem Altar notfalls nach unten zu drücken. »Auch ich bin müde und bedrückt.«
»Euer Vater liegt nicht aufgebahrt in der Kapelle.«
»Ich bedaure Euren Verlust zutiefst, Gräfin, und nur deshalb bin ich bereit, Euch heute abend manches zu verzeihen.«
»Oh, und morgen nicht mehr?«
»Morgen solltet Ihr Euch in acht nehmen. Je länger ich Euch kenne, desto deutlicher merke ich, wie altklug Ihr seid, wie eigensinnig, dreist und tollkühn.«
»Ich bin so, wie mein Vater mich erzogen hat«, fauchte sie.
Vor der Kapelle blieben sie im Kreis einer großen Menschenmenge stehen. Ragwald verlas den Ehevertrag, gab das Bündnis zweier edler Häuser bekannt und teilte den Leuten mit, warum die Trauung sofort vorgenommen werden musste.
Conar wandte sich wieder zu Melisande. »Ihr müsst lange genug am Leben bleiben, um diese schöne Festung und die Ländereien mit Erben zu versorgen, Gräfin. Deshalb rate ich Euch dringend, Euren Eigensinn und Eure Tollkühnheit zu bezähmen. «
»Wo ist denn der verdammte Priester?« murmelte Ragwald.
»Hier bin ich!« Vater Matthew eilte herbei. Den ganzen Tag hatte Melisande ihn nicht gesehen. Er gehörte nicht gerade zu den tapfersten Schlossbewohnern. Wahrscheinlich hatte er sich während der Kämpfe in den Lagerräumen unterhalb der Kapelle versteckt.
Melisande bezweifelte nicht, dass der Wikinger bereits mit ihm geredet und ihm das Versprechen abgenommen hatte, die Trauung zu vollziehen - ohne Rücksicht auf ihre eigenen Wünsche - und ihm somit die Festung zu überantworten. Wirres, schneeweißes Haar hing in Vater Matthews Stirn. Seine kleinen schwarzen Augen streiften sie nur kurz, dann schaute er hastig weg. Im Grunde war er ein sanftmütiger, freundlicher Mann. Sicher bekümmerte es ihn, was hier geschah, aber er tat nichts, um es zu verhindern.
Die Nachtluft kühlte das Kettenhemd, und es fühlte sich wie Eis auf Melisandes Körper an. Gequält schloss sie die Augen, ein kalter Wind streichelte ihre Wangen. Vater Matthew stieg die Eingangsstufen der Kapelle hinauf, nannte die Namen und Titel der Braut und des Bräutigams. Wie eindrucksvoll … Er war der Sohn des Königs von Dubhlain, der Enkel des hohen Königs und eines bedeutsamen norwegischen Jarls. und bleibt ein Wikinger, dachte sie.
»Melisande!« zischte Ragwalds Stimme in ihr Ohr. Rasch hob sie die Lider und merkte, dass sie dem Priester nicht mehr zugehört, die weiteren Vorgänge nicht beachtet hatte.
»Schließt Ihr diese Ehe aus freiem Willen, Gräfin?« wiederholte Vater Matthew.
Nein!
Er räusperte sich, aber nun ergriff der ungeduldige Bräutigam das Wort. »Schließt Ihr diese Ehe aus freiem Willen?«
Sicher wird er nicht mehr lange warten und meinen Kopf nach unten drücken, dachte Melisande. Mein Vater wollte es so. Und ich habe bereits versprochen, seinen Wunsch zu erfüllen, all den Menschen zuliebe, die vom Herrn und der Herrin dieser Festung abhängig sind. »Ja!« fauchte sie. »Aus freiem Willen!«
Die eisblauen Augen musterten sie, diesmal mit einer gewissen Hochachtung.
»Ein Ring!« flüsterte Ragwald dem Wikinger zu. »Ihr müsst ihr den Ring vor der Kapellentür geben, das ist sehr wichtig. Dann können wir eintreten.«
Conar steckte den Ring, mit dem er den Ehevertrag besiegelt hatte, an Melisandes Daumen. Fest schlang sie die Finger darum, damit er nicht zu Boden fiel. Sonst hätten ihre Untertanen verzweifelt aufgestöhnt, in der sicheren Überzeugung, der dänische Feind würde sie schon am nächsten Morgen alle niedermetzeln, oder eine Heuschreckenplage die Ernte vernichten.
Der Priester kündigte den Beginn der Hochzeitsmesse an, und Melisande warf dem Mann an ihrer Seite einen zynischen Blick zu. »Ihr nehmt tatsächlich an einem christlichen Gottesdienst teil?«
»Allerdings, wenn es erforderlich ist.« Er nahm ihren Arm und führte sie in die Kapelle.
Als sie ihren toten Vater sah, strauchelte sie und wäre gestürzt, hätte Conar sie nicht festgehalten. »Ich kann es nicht«, wisperte sie.
»Ihr müsst. Stützt Euch auf mich.«
Halb benommen stand sie die Zeremonie durch, wie in einem verschwommenen Traum. Der Priester sprach von ihrem Vater, von seiner Güte und seinem schrecklichen Ende. Dann erläuterte er die Hintergründe der überstürzten Hochzeit, die
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