03 Göttlich verliebt
Ohr.
Helen konnte spüren, wie seine Haut zu glühen begann, als sie ihm von Daphnes verzweifeltem Plan berichtete, Ajax von den Toten auferstehen zu lassen. Helen wusste nicht genau, was sie da sagte. Sie ließ die ganze verfahrene Situation einfach aus ihrem Mund in sein Ohr fließen. Ein paar Mal spannte er die Muskeln an oder schnaufte ungläubig auf, wenn ihn eine neue Erkenntnis traf. Als sie dann zu erklären versuchte, wieso sie am Strand gleich zu Orion gelaufen war und das Wort »Beschützer« gebrauchte, legte Lucas ihr einen Finger an die Lippen.
»Erzähl mir nichts davon«, flüsterte Lucas. Er hatte sofort begriffen, dass ihr Plan, die Götter zu besiegen, gefährdet war, sobald sie sich von Orion entfernte. »Du darfst hier nicht einmal daran denken. Du musst sofort zurück zu Orion.«
»Ohne dich gehe ich nirgendwohin.«
»Du musst zurückgehen, Helen«, widersprach Lucas energisch, doch statt sie von seinem Schoß zu schieben, hielt er sie noch fester in den Armen. »Ich kann nicht mit dir kommen, denn ich habe einen Eid geschworen.« Diese letzten Worte blieben ihm fast im Hals stecken. Anscheinend wurde ihm erst jetzt das Ausmaß seines Fehlers bewusst.
»Aber Lucas, die Götter nutzen deine Abwesenheit, um zu behaupten, dass du tot bist und das Duell nicht wirklich gewonnen hast. Es geht hier nicht nur um dich und mich. Du musst zurückkommen und dich vor den Göttern präsentieren oder sie hetzen Tantalus’ Armee auf uns.«
»Mein kleiner Bruder wird seine Armee auf dich hetzen, egal was du tust, Nichte. Wenn Lucas aufs Schlachtfeld zurückkehrt, um zu beweisen, dass er noch lebt, würde Zeus sich einen anderen Grund für einen Angriff suchen«, mischte sich Hades’ traurige Stimme ein. Helen glitt hastig von Lucas’ Schoß. Die beiden standen jetzt Seite an Seite und hielten sich an den Händen, während Hades über die Stufen zu ihnen heraufkam.
»Wusstest du es?«, fragte Helen ihn. »Das mit Daphne? Wusstest du, was sie vorhatte?«
»Ich sehe vieles, aber nicht alles«, antwortete Hades und schüttelte den Kopf. »Niemand ist allwissend. Selbst die Parzen haben Nemesis, die ihnen den Blick versperrt.«
»Ich brauche ihn«, wisperte sie und drückte Lucas’ Hand.
»Und ich habe ihm das mehrfach gesagt, aber er wollte ja nicht auf mich hören«, erwiderte Hades und schaute weg. »Aber sosehr ich mit euch mitfühle, kann ich ihn doch nicht entlassen. Er hat einen Eid geschworen, der auch für mich bindend ist.«
»Er hatte kein Recht, diesen Eid abzulegen. Er ist nicht bereit, dein Nachfolger zu werden.« Helen trat von Lucas weg und erhob die Stimme. »Ich rufe die Eumeniden, um meine Einwände vorzubringen. Lucas taugt nicht zum Herrscher über die Toten.«
»Cleveres Mädchen«, murmelte Hades nachdenklich, als wäre er niemals auf diese Idee gekommen.
Als die drei Mädchen, die einst die Furien waren, aus der Dunkelheit hinter dem Thron hervortraten, musste Hades schmunzeln. Die drei Ex-Furien, die jetzt als Eumeniden oder auch »Die Wohlwollenden« bekannt waren, dienten der Unterwelt als eine Art übernatürliche Anwälte – und sie waren Helen etwas schuldig.
Die Eumeniden stellten sich rechts von Lucas’ Thron auf und Hades links davon. Die kleinste von ihnen lächelte Helen kurz an. Helen lächelte zurück und musste sich beherrschen, um ihr nicht zuzuwinken wie einer guten Freundin.
Dann ließ die Kleinste ihr Gesicht wieder ausdruckslos werden und wendete den Blick ab. Die Eumeniden hatten ihre Befreiung von dem elenden Leben als Furien zwar Helen zu verdanken, aber sie würden dennoch tun, was richtig war, und sich nicht automatisch zu ihren Gunsten entscheiden.
»Lasst die Toten eintreten und ihr Urteil sprechen«, sagten sie wie aus einem Mund.
Geisterhafte Seufzer erfüllten den Raum, als sich unsichtbare Wesen gegen Helen und Lucas drängten und sie im Vorbeigehen in die eine oder andere Richtung schwanken ließen. Nur Sekunden später war die ganze Halle bis hoch in die undurchdringliche Dunkelheit der Decke und bis in die hinterste Ecke mit Hunderten, Tausenden und schließlich Millionen von toten Seelen gefüllt.
»Lasst uns zunächst die Vorzüge des Kandidaten erörtern«, sagte die Anführerin der Eumeniden, die ein paar Schritte vortrat und mit ihrem blassen Arm in Lucas’ Richtung wedelte. »Der wichtigste ist wohl seine Intelligenz. Indem er anbot, Hades abzulösen, ist er der erste Bittsteller, der dem Herrscher über das Totenreich jemals den
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