03 Göttlich verliebt
dass sein Gesicht wie erstarrt war und er sie mit großen Augen ansah.
»Ich war das nicht«, sagte er und betrachtete die zurückschwappende Welle, die um sie herumströmte, ohne sie zu berühren. »Du machst das.«
Helen hörte damit auf, im Geiste das Wasser von sich wegzuschieben, und stellte sich stattdessen vor, wie es auf ihre Haut traf. Die unsichtbare Schutzwand, die das Wasser ferngehalten hatte, brach zusammen und die nächste Welle reichte ihnen bis zum Bauch. Helen schaute verlegen zu Orion auf.
»Ach ja … Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass ich ein paar eurer Begabungen übernommen habe, als wir drei Blutsgeschwister wurden«, begann sie zögernd. »Zumindest vermutet Lucas, dass es so ist.«
»Ich würde sagen, dass er damit recht hat«, sagte Orion und sah Helen ganz merkwürdig an.
»Was?«, fragte sie zögernd. »Bist du sauer auf mich?«
»Nein. Es ist nur so, dass ich über eine Begabung verfüge, die ich niemandem wünsche«, sagte er sanft. »Kannst du Erdbeben auslösen, Helen?«
»Ich weiß es nicht. Wo spürst du sie?«, fragte Helen, weil sie wusste, dass er verstehen würde, was sie damit meinte. Sie fühlte ihre Blitze tief in ihrem Bauch. Und die Schwerkraft spürte sie in jeder einzelnen Zelle, und sie nahm an, dass auch Erdbeben irgendwo im Körper ihren Ursprung hatten, genau wie die anderen Sinne. Orion trat dichter an sie heran und wirkte sehr ernst.
»Hier«, sagte er und fuhr mit den Händen über ihre Beine. »Als würde man ein Pferd von der Größe eines Kontinents reiten«, fügte er leise hinzu. Helen legte ihm die Hände auf die Schultern, weil ihre Knie plötzlich ganz weich wurden.
Der Boden bebte.
Orion hielt sie fest, bevor ihre Beine unter ihr nachgaben, und zog sie eng an sich. »Das ist ein Ja«, flüsterte er.
Helen fuhr mit den Fingerspitzen über die Narbe auf seiner Brust. Er senkte den Kopf, küsste sie und zog sie bei der nächsten Welle mit sich unter Wasser.
Helen hatte keine Gelegenheit, in Panik zu geraten, weil sie unter Wasser war – sie war zu sehr damit beschäftigt, den Kuss zu erwidern. Sie merkte nicht einmal, dass sie das Wasser einatmete, als wäre es Luft, denn sie ließ ihre Hände über Orions Schultern und seinen Nacken wandern. Das Einzige, woran sie denken konnte, war, wie faszinierend er sich anfühlte. Faszinierend. Aber nicht richtig.
Orion zog sich jäh zurück. Helen öffnete die Augen, und obwohl das Wasser dunkel war, sah sie sofort die Trauer in seinem Gesicht. Sie hatte schon wieder alles verdorben. Ihre einzige Chance, mit einem anderen Jungen glücklich zu werden – einem Jungen, der fast perfekt war –, und sie hatte es verbockt. Sie streckte die Arme nach ihm aus und hoffte verzweifelt, ihre lächerliche Verliebtheit in Lucas endlich abschütteln zu können. Wenn sie mit Orion zusammen war – richtig zusammen –, würde sie vielleicht über Lucas hinwegkommen.
Orion wich ihrer Umarmung aus. Er nahm stattdessen ihre Hand, schwamm zurück an die Oberfläche und zog sie hinter sich her.
Sie waren tiefer gesunken und weiter aufs Meer hinausgetrieben, als Helen gedacht hatte. Sie konnte den Ozean jetzt zwar beherrschen, aber sie wusste immer noch nicht, wie man schwamm. Aber das machte nichts. Mit ein paar kräftigen Schwimmstößen brachte Orion sie zurück an den Strand. Er sprach kein Wort. Als sie wieder im Sand standen, ließ er ihre Hand los und steuerte wortlos die Stelle an, an der sie ihre Kleidung ausgezogen hatten.
»Orion, es tut mir leid, okay?«, rief Helen, die ihm folgte. Doch er wurde nicht einmal langsamer. Als sie schneller hinter ihm herhastete, beschleunigte er seine Schritte ebenfalls. »Kannst du mal warten?«
»Wozu?«, fauchte er und fuhr herum. »Was zwischen dir und mir wird in fünf Minuten anders sein als jetzt oder in fünf Jahren? Ich könnte mein ganzes Leben lang auf dich warten und du würdest immer noch in Lucas verliebt sein.«
»Aber dich liebe ich auch«, beteuerte Helen.
»Das weiß ich«, sagte er deprimiert. »Aber nicht so, wie du ihn liebst.« Orion setzte sich in den Sand. Helen blieb stehen und rang nervös die Hände.
»Vielleicht ist es nicht dasselbe, aber das bedeutet nicht, dass nicht irgendwann …«, Helen verstummte.
Es würde kein »irgendwann« geben und Helen wusste es. Sogar nachdem sie das Wasser des Lethe berührt hatte und sich nicht mehr an ihren eigenen Namen hatte erinnern können, hatte sie immer noch gewusst, wer Lucas war. Sie würde
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