03 Göttlich verliebt
haben wir so lange überlebt, ohne in diesen Mauern zu verhungern.«
»Verhungern – so wie die Leute draußen?«, fragte Atlanta mit einem verunsicherten Stirnrunzeln.
»Das stimmt. Deswegen müssen wir zu Tante Briseis. Um ihr mehr Essen zu bringen.«
Helena von Troja hob ihre Tochter hoch und setzte sie sich auf die Hüfte. »Verändere dein Gesicht, wie Mami es dir beigebracht hat«, verlangte sie und berührte die Hälfte des Cestus, den Atlanta in Form eines Herzanhängers an einer Kette um den Hals trug. Atlanta kniff vor lauter Konzentration die Augen zusammen und wie durch Zauberei veränderte sich ihr Gesicht. »Vergiss die Haare nicht«, ermahnte Helena sie, und Atlantas schimmernde blonde Locken wurden braun. Helena veränderte ebenfalls ihr Aussehen und aus ihr wurde eine schlichte kräftige Feldarbeiterin.
Die beiden eilten durch den Palast und hinunter in die Küche. Eine alte Frau, die einst Briseis’ Amme gewesen war, reichte Helena ein vorbereitetes Bündel, das sie sich auf den Rücken band. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass außer der treuen alten Dienerin niemand sie beobachtete, dann schlich sie durch die Hintertür hinaus in den Küchengarten. Helena rannte hastig zur Mauer und ihre Tochter klammerte sich an ihr fest. Als sie die Festungsmauer erreichte, kletterte sie so schnell an einer Seite hinauf und an der anderen Seite wieder hinunter, dass es die Wachen in der Dunkelheit vor dem Morgengrauen nicht bemerkten.
Atlanta hatte keine Angst, obwohl sie genau wusste, dass sie und ihre Mutter außerhalb der Festung in tödlicher Gefahr schwebten. Helena lächelte ihre tapfere Tochter stolz an und huschte mit ihr durch das schlafende Lager. Vor einem der größten Zelte der Belagerer blieben sie stehen und Helena pfiff leise.
Einen Moment später tauchte eine Frau auf, die genauso aussah wie Ariadne und das getarnte Mutter-Tochter-Paar liebevoll umarmte.
»Briseis«, begrüßte Helena die Frau freudig. Die Schwägerinnen küssten einander auf beide Wangen.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Briseis, als sie Helena und Atlanta ins Zelt führte. »Achill wird bald zurück sein.«
»Dagegen gibt es ein einfaches Mittel. Eines, das uns erlaubt, so viel Zeit miteinander zu verbringen, wie wir wollen«, sagte Helena und ließ ihr richtiges Gesicht erscheinen.
»Fang gar nicht erst an«, warnte Briseis. »Ich werde ihn nicht verlassen.«
»Ich weiß.« Helena setzte Atlanta ab und gab ihr eine kleine Holzfigur zum Spielen, bevor sie Briseis das Bündel mit den Lebensmitteln überreichte. »Hast du dir überlegt, was passieren wird, wenn Achill wieder in den Kampf zieht?«
»Das wird er niemals tun. Er hasst Agamemnon und lässt sich von ihm nichts befehlen.«
»Er ist mit seinen Truppen nicht umsonst übers Meer gekommen, Briseis.«
»Das ist mir klar.« Briseis’ Augen funkelten gereizt. »Aber er ist jetzt anders. Er hat mir gesagt, dass er nicht mit meinem Bruder im Streit liegt.«
»Es ist egal, ob er mit Hektor zerstritten ist oder nicht. Das hier ist Krieg. Lass dich nicht von deiner Liebe zu Achill blenden.«
»Das werde ich nicht.« Briseis schaute weg. »Aber ich weiß, auf welcher Seite der Mauer ich stehe.«
»Und auf welcher Seite des Krieges? Was ist mit ihr?«, flehte Helena leise und deutete auf Atlanta. Sie sah, wie besorgt Briseis plötzlich wirkte und wusste, dass es sich allein aus diesem Grund gelohnt hatte, ihre Tochter dieser Gefahr auszusetzen. Helena setzte nach, solange sie die Gelegenheit dazu hatte. »Achill ist gekommen, um den Tyrannen zu töten. Das war das einzige Argument von Agamemnon, das ihn dazu gebracht hat, in den Krieg zu ziehen.«
»Atlanta hat von ihm nichts zu befürchten, das schwöre ich«, versicherte Briseis und sah auf Atlanta hinab. »Er würde niemals ein Kind töten. Du kennst ihn nicht.«
Die beiden Schwägerinnen funkelten einander an. Die einzigen Laute im Zelt kamen von Atlanta, die mit ihrem Püppchen flüsterte.
»Gefällt dir der hübsche Garten, den ich für dich gemacht habe? Wo die Sonne nie brennt und die Bienen nicht stechen und du nie Steine in die Sandalen bekommst?«, zwitscherte Atlanta, die vollkommen in ihrer Spielwelt versunken war.
Helena schnitt eine lustige Grimasse und unterhielt sich halblaut mit Briseis. »Sie verbringt den ganzen Tag damit, sich eine perfekte Welt vorzustellen, in der niemand leidet. Sie ist ein wirklicher Schatz, findest du nicht?«
Briseis wendete den Blick ab
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