03 Göttlich verliebt
der die Götter austricksen konnte, dann war er es.
Helena beugte sich über ihren Mann und strich ihm zum Abschied zart mit den Lippen über die nackte Schulter. Vielleicht würde sie ihn eines Tages am Ufer des Lethe wiedersehen. Dann könnten sie all ihre hasserfüllten Erinnerungen abwaschen und gemeinsam ein neues Leben beginnen, ein Leben, das nicht von den schmutzigen Machenschaften der Götter und Könige befleckt war.
Was für ein schöner Gedanke. Helena schwor sich, dass sie hundert Leben voller Entbehrungen auf sich nehmen würde, wenn sie dadurch nur ein einziges Leben – ein echtes Leben – mit Paris gewinnen konnte. Sie könnten Schafhirten sein, wie sie es sich vor langer Zeit erträumt hatten, als sie sich am großen Leuchtturm begegnet waren. Sie würde alles machen, am Meer einen Laden eröffnen oder Landwirtschaft betreiben, wenn ihnen das nur erlaubte, ein ungestörtes Leben zu führen und einander zu lieben. Sie zog sich hastig an und hoffte, dass dieser Traum irgendwann Wirklichkeit werden würde.
Es war Nacht, die Sonne war erst vor zwei Stunden untergegangen, als Helena auf ihrem üblichen Weg durch die Küchen aus dem Palast schlich. Als sie auf dem Weg zur Mauer durch den Kräutergarten huschte, entdeckte sie Aeneas, der den Hügel zum Tempel des Orakels hinaufstieg. Helena zögerte. Niemand ging mehr zum Orakel, es sei denn, er wurde hinbestellt. Was wollte Kassandra mitten in der Nacht von Aeneas …, mitten in dieser Nacht?
Sie konnte ihm nicht folgen, aber sie erkannte, was für ein Glück es war, dass er gerade abgelenkt war. Von allen Männern war er der Einzige, den der Cestus nicht beeinflussen konnte, denn er war Aphrodites Sohn. Helena ahnte, dass es mehr als Glück war. Allerdings hatte sie wieder einmal das unangenehme Gefühl, nur ein Spielball der Parzen zu sein. Aeneas war der Einzige, der ihren Plan vereiteln konnte, und das Orakel selbst hatte eingegriffen, um ihn von seinem Posten an der Mauer wegzulocken. Dann war es also Schicksal. Troja war dem Untergang geweiht.
Im nächsten Moment stieg Helena die Stufen zum Geschützturm hinauf. Die Wachen an dieser Station traten respektvoll zur Seite und verbeugten sich vor ihr. Helena sah über die Mauer zu dem großen hölzernen Pferd, das die Griechen am Strand zurückgelassen hatten.
»Bringt es herein!«, befahl sie.
»Prinzessin, darf ich sprechen?«, fragte der Kommandant. Helena hasste diese Anrede, aber da es hier in Troja ihr Titel war, konnte sie sich nicht dagegen wehren. Sie nickte knapp und erteilte dem Soldaten damit das Wort. »General Aeneas hat befohlen, das Pferd nicht anzurühren. Er glaubt, dass es ein Trick ist.«
»Wie könnte das ein Trick sein?«, fragte sie unschuldig. »Die Griechen sind abgezogen. Davongesegelt. Troja hat den Krieg gewonnen.«
Die Männer sahen einander an und wussten nicht, was sie tun sollten. Ein junger Soldat, der sich vermutlich an kaum etwas erinnerte, das vor dem Krieg geschehen war, mischte sich mit bebender Stimme ein. »Entschuldigt, Prinzessin. Aber die Kinderfrau meiner Cousine sagt, dass ihr Mann, der Fischer ist, gesehen hat, dass all die griechischen Schiffe hinter der Landzunge vor Anker liegen.«
»Nun, ich bin sicher, dass der Fisch fangende Ehemann der Kinderfrau deiner Cousine mehr von Politik und Kriegskunst versteht als ich«, sagte Helen jovial, und die anderen Soldaten fingen an zu lachen, während der junge Mann rot wurde und auf seine Füße starrte. »Aber ich denke, wir können wohl davon ausgehen, dass das große Holzpferd eine Opfergabe für Poseidon ist. Die Griechen wollen sich damit vermutlich eine sichere Heimfahrt erkaufen. Wenn wir das Pferd an uns nehmen, stehlen wir ihnen ihr Opfer, und dann wird Poseidon vielleicht ein paar griechische Schiffe zu sich auf den Meeresgrund holen. Wie gefällt euch das?«
Helenas aufmunternder Ton brachte die meisten der Männer zum Grinsen, doch ein paar zögerten noch. Helena lief die Zeit davon und ihr war klar, dass sie keine andere Wahl hatte. Als sie den Cestus einsetzte, um auch die Zweifler zu überzeugen, verspürte sie zum ersten Mal echten Hass. Allerdings auf sich selbst.
»Bringt es herein!«, wiederholte sie, und alle Männer stürmten mit ausdruckslosem Gesicht und leeren Augen los, um ihren Befehl auszuführen.
Als das große Tor zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt geöffnet wurde, rannte Helena vom Turm herunter und durch die Stadt zum Tempel des Orakels. Wenn Aeneas jetzt
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