03 Göttlich verliebt
zu retten.
Kassandra hatte riskiert, den Zorn der Parzen auf sich zu lenken, um den Mann zu retten, den sie liebte, doch ihr Plan war nach hinten losgegangen und vertilgte sich jetzt selbst wie eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz frisst. Indem sie und Aeneas sich geliebt hatten, hatte Kassandra ihn nicht dazu gebracht, dass er aus Troja fliehen wollte, sondern ihm stattdessen einen Grund zum Bleiben geliefert. Trotz all ihrer Voraussicht war Kassandra nicht auf den Gedanken gekommen, dass sich Aeneas unsterblich in sie verlieben könnte. Aber genau das war passiert. Und jetzt musste sie ihn umstimmen oder zusehen, wie er unter den Händen der Griechen starb.
»Ich weiß, dass Paris unserer Heirat zustimmen wird«, sagte Aeneas. »Natürlich musst du dann deine Position hier im Tempel aufgeben, aber das wäre nicht so schlimm, oder?«
»Es wäre das Paradies«, gab Kassandra traurig zu. Sie stieg von seinem Schoß und legte ihren Chiton an, während sie weitersprach. »Aber du hast mehr zu fürchten als nur meinen Bruder. Das haben wir alle.«
»Fängst du jetzt wieder vom Fall Trojas an?«, fragte er misstrauisch.
»Nein, davon werde ich nie wieder sprechen«, sagte Kassandra ruhig, und Aeneas entspannte sich. »Ich meine etwas anderes, das nichts mit irgendeiner Prophezeiung zu tun hat.«
Damit er ihr glaubt, dachte Helena, die Kassandras Strategie durchschaute. Der Fluch sorgt nur dafür, dass man ihre Prophezeiungen nicht glaubt, aber er betrifft nicht die anderen Wahrheiten, die sie vielleicht äußert.
»Du musst Troja vor Sonnenaufgang verlassen, sonst sieht Apoll, dass du mein Liebhaber geworden bist.«
»Was geht Apoll das an?«, fragte Aeneas verwirrt.
»Ich habe ihn vor Jahren zurückgewiesen. Der einzige Grund, aus dem ich noch am Leben bin, ist, dass auch er die Parzen fürchtet, und sie haben mich zuerst für sich beansprucht.« Kassandras Stimme drohte zu versagen, als sie Aeneas’ entsetztes Gesicht sah, aber sie fuhr dennoch fort. »Apoll erscheint mit der Sonne. Wenn er sieht, dass ich mich dir hingegeben habe, wird er nicht nur dich verfluchen, sondern auch deinen Sohn und deinen Vater.«
Aeneas starrte Kassandra entgeistert an und er wurde im Fackelschein ganz blass.
»Es tut mir leid.« Sie streckte die Hand nach ihm aus, doch Aeneas wich vor ihr zurück.
»Warum?«, fragte er verzweifelt. »Warum hast du mir das angetan?«
»Es tut mir leid«, wiederholte sie. Er stand auf, suchte nach seinem Chiton und band ihn gereizt zu.
»Ich war bereit, für dich zu sterben, wenn das meine Strafe sein sollte, aber mein Sohn und mein Vater haben damit nichts zu tun. Du hättest es mir sagen müssen.« Er fühlte sich so sehr von ihr hintergangen, dass seine Stimme bebte. »Du hast meine Familie für ewig verflucht.«
»Nein«, widersprach Kassandra und wischte sich die Tränen von der Wange. »Wenn du jetzt gehst, deinen Vater und deinen Sohn holst und Troja noch vor dem Morgengrauen verlässt, wird Apoll dir nichts tun.«
»Natürlich wird er das!«, brüllte Aeneas, der sich nicht mehr beherrschen konnte.
»Nein, er wird dich niemals mehr anrühren können, das schwöre ich!«, brüllte sie zurück. Das ließ Aeneas innehalten. Orakel schworen nicht leichtfertig. »Kurz nach Sonnenaufgang wird Apoll durch einen Eid, den Zeus auf den Styx geschworen hat, auf dem Olymp gefangen sein. Zeus hat es für unmöglich gehalten, dass die Halbgötter ihren Teil der Abmachung erfüllen könnten, aber beim Morgengrauen wird es getan sein. Zeus ist an seinen Eid gebunden, was bedeutet, dass die Zwölf für viele Generationen auf dem Olymp bleiben werden.«
»Und was ist diese unmögliche Sache, die die Halbgötter bis zum Morgengrauen erledigen müssen?«, fragte Aeneas, als glaubte er allmählich, was sie sagte.
»Du glaubst es mir doch nicht.« Kassandra seufzte, als hätte Atlas ihr gerade seine Last auf die Schultern geladen. Dann lachte sie und murmelte zu sich selbst: »Ein riesiges Holzpferd. Wie albern.«
»Was ist mit dem Pferd?«, fragte Aeneas, und seine Stimme war plötzlich bedrohlich tief. »Das Pferd, das draußen vor dem Tor steht?«
»Es ist zu spät«, sagte sie mit einem Kopfschütteln. »Hol deinen Sohn. Und deinen Vater. Verlass Troja. Wenn du bleibst, wird Apoll uns alle bestrafen.«
Aeneas’ Schultern sanken, und sein betrübter Gesichtsausdruck ließ ihn wieder so jung aussehen wie vor zehn Jahren, als Helena ihm zum ersten Mal begegnet war.
»Ich habe dir wirklich
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