03 Nightfall - Zeiten der Finsternis
auf. Er nahm die feucht beschlagene Bierflasche und trank sie auf einen Zug aus. Sein Hals schmerzte. Er starrte das unwahrscheinliche Bild auf dem Display seines Mobiltelefons an und stellte dann die Flasche wieder auf den Couchtisch. Sie fiel mit sachtem Klirren um und rollte einige Augenblicke vor und zurück, ehe sie zum Liegen kam.
Er stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu laufen, das Mobiltelefon fest in der Hand.
Das Haus war verschwunden.
Alle möglichen Erklärungen fielen ihm ein. Erdstöße. Ein plötzlicher Erdrutsch. Eine bisher ungeklärte Naturkatastrophe. Doch keine dieser Alternativen erklärte die Figuren um den Höhleneingang.
Das Haus war verschwunden.
Wohin hatte er Thibodaux, Goodnight und die Portland-Agenten da geschickt? Schlimm genug, dass ihm befohlen worden war, ihnen nicht die Wahrheit zu sagen. Er musste seine Agenten zurückholen, bis man wusste, wie gefährlich es auf dem Grundstück der Wells beziehungsweise Lyons war.
Er musste Underwood anrufen. Gillespie blieb stehen, nahm die dritte Bierflasche vom Couchtisch und machte den Verschluss auf. Er nahm einen langen, kühlen Schluck, doch sein Herz weigerte sich, wieder langsamer und freier zu schlagen.
Als bereite er sich darauf vor, in einen tiefen Swimmingpool zu hechten, holte er mehrfach tief Luft und wählte dann Underwoods Nummer.
Sie antwortete nach dem ersten Klingeln. »Guten Morgen«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten. Sind die Verdächtigen verhaftet?«
»Noch nicht. Die Agenten sollten jeden Augenblick in Oregon eintreffen. Aber ich möchte um Erlaubnis bitten, sie zurückzubeordern. Wir haben ein … ungeahntes … Problem.«
»Ich höre.«
»Das Haus ist verschwunden.«
Eine lange Pause folgte. Dann fragte Underwood: »Sind Sie betrunken?«
»Noch nicht«, entgegnete Gillespie. »Ich schicke Ihnen die Satellitenaufnahmen, die mir die Überwachungsleute zugesandt haben. Die erste stammt von vier Uhr morgens, die zweite ist schätzungsweise acht Minuten alt.« Er drückte den Sendeknopf. Einen Augenblick später hörte er vernehmliches Luftholen am anderen Ende der Leitung, Tausende von Kilometern entfernt in Washington. Das Bild war eingetroffen.
»Gütiger Himmel«, murmelte Underwood.
»Ich habe den Auftrag erteilt, alles zu versiegeln. Kann ich meine Agenten zurückpfeifen?«
»Nein. Sie können herausfinden, was passiert ist und ob unsere Verdächtigen noch dort sind oder nicht.«
Gillespie fing wieder an, auf und ab zu laufen. In einer Hand hielt er die Bierflasche. »Die Verdächtigen könnten tot sein«, brummte er. »Ich würde meine Leute lieber zurückbeordern oder sie zumindest wissen lassen, was sie zu erwarten haben.«
»Das sind Skulpturen um das … das Loch. Jemand muss sie aufgestellt haben. Also ist noch jemand am Leben. Sie können Ihre Agenten anrufen und sie warnen, aber Sie werden sie auf keinen Fall abberufen oder den Befehl erteilen, erst mal abzuwarten. Ich will vielmehr, dass Sie den nächsten Flug nach Portland nehmen und sich ihnen anschließen.«
Gillespie blieb stehen. »Verstanden.«
»Aber seien Sie nüchtern. Rufen Sie mich an, wenn Sie den Tatort gesichert haben.«
Die Verbindung brach ab. Underwoods charakteristisches Ich-bin-nicht-zufrieden-mit-Ihnen-und-Sie-befinden-sich-auf-dünnem-Eis-Auflegen.
Gillespie betrachtete das gerahmte Moulin-Rouge - Poster, das Lynda einige Jahre zuvor aufgehängt hatte. Dann trank er das allmählich wärmer werdende Pacifico-Bier in einem Zug aus, wählte Thibodaux’ Nummer und wartete auf den Klingelton.
5
NICHTS IN SEINEN AUGEN
Damascus, Oregon · 25. März
Mit der Glock in der Hand schlich Merri an der Fahrerseite des schmutzbespritzten SUV entlang, der am Straßenrand nur wenige Schritte hinter der steilen Einfahrt mit dem Schild »Privat« parkte. Nummernschilder aus Washington. Auf dem Dach ein Fahrradträger. Beschlagene Fenster, die die frühe Morgensonne noch nicht gewärmt hatte.
Im Inneren des Autos hörte sie das Rasen eines menschlichen Herzens. Es flatterte aufgeregt wie die Flügel eines Kolibris, aufgepeitscht von Angst, Schmerzen oder Adrenalin – vielleicht aus einer Mischung aus allen drei Komponenten.
Ästchen und Nadeln knirschten unter den Stiefeln ihres Partners. Der Geruch nach Kiefern und feuchter Rinde lag in der Luft, während Emmett auf der anderen Seite des SUV auf gleicher Höhe wie Merri entlangschlich. Leder knarzte, während er seinen Fünfundvierziger-Colt aus dem
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