03 Nightfall - Zeiten der Finsternis
definierten Muskeln, die Falten des Rocks, den Schwung der Flügel.
In dem weißen Stein flatterte ein Herz, dessen Schlag langsamer wurde, als Merri näher kam. Sie berührte das Antlitz der Gestalt mit einem zitternden Finger. Blaue Fünkchen knackten in der stark ozonhaltigen Luft.
»Das ist völlig irreal, Goodnight. Was ist hier geschehen?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Aber ich weiß, dass das keine Skulpturen sind.«
»Keine Skulpturen? Sind das die Tabletten, die dich so reden lassen, oder behauptest du, das sind wirklich Engel, die jemand in Stein verwandelt hat?«
»Irgendwie sehen die wie Statuen Gefallener aus«, meinte Merri, deren Blick an den federlosen Fittichen hängen blieb. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen.
»Gefallener? Du meinst, von gefallenen Engeln?«
»Von Elohim – ja.« Merri trat einen Schritt näher, die Glock fest in der Hand.
»Du verarscht mich, oder?«
»Nein.«
Sie ging zu der nächsten Figur. Es war eine Frau, deren Kleid sich an ihre sinnlichen Kurven schmiegte. Sie hatte die Flügel ausgebreitet, während ihr verzagter Blick gen Himmel gerichtet war. Die Hände hatte sie vor den Mund gepresst. Merris Augen wanderten ebenfalls nach oben – zu der Statue, die über der weiblichen und der vorherigen aufragte. Dieser Engel war im Flug erstarrt. Der Wind hatte sein Haar nach hinten geweht und mit dem Stoff seines Gewandes gespielt. Die Flügel durchschnitten die Luft, und die Miene des Wesens war beseelt.
»Merri?«
»Ich höre ihre Herzen. Ich höre ihren Herzschlag.«
Emmett stieß einen leisen Pfiff aus. »Mein Gott! Mein … Gott! Aber wer oder was könnte gefallene Engel in Stein verwandelt haben?«
Merri spürte in jeder der Figuren eine Kraft, die ihre Fingerspitzen sogar unter den Lederhandschuhen kribbeln ließ. Sie erinnerte sich an Geschichten über die Gefallenen und ihre großen Engelskämpfe.
Am Anbeginn der Zeiten, Mädchen, als die Elohim mit der Welt der Sterblichen um die Macht kämpften, fuhren blaue Blitze durch die Luft und erfüllten sie mit einem Geruch nach Donner und Feuer.
So hat es mir jedenfalls ein wandernder Llygad erzählt, damals, vor langer Zeit, Merri, mein Mädchen.
Nur ein Märchen, hatte sie damals angenommen. Auch Vampire hatten Mythen und Legenden. Doch als sie nun den Kreis aus steinernen Engeln ablief und in jedem Gesicht den Ausdruck von Schock, Angst, Ungläubigkeit oder Entsetzen widergespiegelt fand, war sie sich nicht mehr so sicher. Nur die Engel aus strahlend weißem Stein, die über den anderen aufragten, wirkten anders. Sie mussten durch den Nachthimmel geflogen sein. Es war Nacht gewesen, oder? Wahrscheinlich hatten sie und Emmett zu diesem Zeitpunkt gerade in Rodriguez’ Wohnzimmer gestanden und mit Gillespie geredet.
Möglicherweise war es auch während ihres Fluges nach Portland passiert.
Sie betrachtete die Höhle, um die die Gefallenen standen. Wasser dröhnte in ihrem dunklen Inneren. Plötzlich glaubte sie, etwas zu vernehmen. Eine Stimme.
Nein – mehrere Stimmen.
Sie hob die Hand und gab ihrem Kollegen ein Zeichen, still zu sein. Dann lauschte sie angespannt.
Drei Stimmen sangen unisono: Heilig, heilig, heilig.
Merri stellten sich die Nackenhaare auf. Die Stimmen klangen kalt, fast unmenschlich – nicht im Sinne von Vampiren, sondern wie aus einem grauenvollen Alptraum. Sie warf Emmett einen Blick zu.
»Ich höre Stimmen.« Sie wies auf den Höhleneingang. »Drei Stimmen, die singen.«
Emmett runzelte die Stirn. »Singen?«
Merri nickte. »Ja. Sie scheinen irgendwie miteinander vereint zu sein.«
Sie ging an den versteinerten Gefallenen vorbei zum Eingang der Höhle, wo sie sich hinkniete. Die Glock hielt sie nach unten gerichtet, während sie sich mit der linken Hand am Höhlenrand abstützte und ins Dunkel hinunterblickte. Kalte, frische Luft, die nach Ozon, frisch aufgewühlter Erde und Wasser roch, schlug ihr entgegen. Das Blut gefror ihr in den Adern.
Sie sah das schwache Schimmern des Flusses weit unter ihr. Die Steine am Höhleneingang glitzerten nass. Außer dem Rauschen des Wassers vernahm sie wieder die Stimmen, die wie Nebelschwaden zu ihr hochdrangen. Heilig, heilig, heilig.
Merri erschauderte. Sie hatte das Gefühl, dass das, was da unten sang, so weit von etwas Heiligem entfernt war wie sie von den Sterblichen.
Emmett kauerte sich neben sie. Sie atmete seinen Geruch nach Anis und Eis ein, was sie etwas beruhigte. Ihr Partner glaubte weder an Märchen noch an
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