03 - Schatten Krieger
sich gerissen hatte. Zurückblickend musste er einräumen, dass er seine Rache besser auf eine verstohlenere, sicherere Art und Weise hätte planen sollen. Hätte er einen solchen Mordanschlag für jemand anderen ausgeführt, wäre er ein Schatten unter Schatten gewesen, eine kalte, unsichtbare Klinge des Todes. Jetzt jedoch, in seiner Erschöpfung, erkannte er, dass sein ungestümes Vorgehen einem Drang zur Selbstzerstörung entsprungen sein musste, der alle Vorsicht und List ignoriert hatte. Meine Mutter und mein Bruder sind tot, dachte er. Ich muss um sie trauern, eine Möglichkeit finden, ein letztes Wort für sie zu sprechen, für sie zu beten und mich von ihnen zu verabschieden. Erst danach kann es Vergeltung geben.
Der Geruch von feuchtem Holz und Tauwerk und das Flackern von Mastlaternen verrieten Ondene, dass sie an den hoch aufragenden Bugs von mehreren vertäuten Schiffen vorübergingen. Selbst zu dieser späten Stunde waren die Hafenarbeiter noch bei der Arbeit und beluden einen riesigen Lastkahn. Ihre Rücken bogen sich unter den Säcken, Kanistern, Tuchballen und all den anderen Handelsgütern. Überall sah er Wachen auf den Schiffen, und die Hafengarde patrouillierte zu zweit. Ihre Stablaternen trugen sie über den Schultern. »Ah, endlich!«, sagte Qothan.
Ondene konnte sich nur noch mühsam auf den Füßen halten und folgte dem Mann über eine Laufplanke zu einer erleuchteten Öffnung. Es kostete ihn die letzte Kraft, diese Planke zu erklimmen, und als er an ihrem oberen Ende stolperte, verhinderte nur die geistesgegenwärtige Hand eines Matrosen, dass er stürzte. Jemand warf ihm eine grobe Wolldecke über die Schultern, als Qothan neben ihm auftauchte.
»Prinz Agasklin erwartet Euch im Orakel«, sagte der Matrose, der ebenso groß und hager war wie Qothan. Der nickte und drehte sich zu Ondene herum.
»Ich sehe Eure Erschöpfung, Hauptmann, aber mein Herr möchte sofort mit Euch sprechen, falls Ihr dazu in der Lage seid.«
Ondene hätte beinahe laut gelacht, rieb sich jedoch stattdessen nachdenklich das Kinn und holte tief Luft. Er versuchte, die Müdigkeit wenigstens aus seinem Geist zu vertreiben.
»Ich bin gewiss alles andere als ein wortgewandter Gesprächspartner«, meinte er. »Falls ich überhaupt etwas sagen kann. Aber ich werde es gern versuchen.«
»Sehr gut, Hauptmann. Hier entlang.«
Qothan führte ihn von der Luke durch einen niedrigen Eingang in einen breiteren, von Laternen beleuchteten Flur, der in einen Längsgang mündete. Die anderen Matrosen der
Sturmklaue
waren genauso schlaksig wie Qothan und überragten allesamt Ondene mindestens um einen Kopf. Außerdem wirkten sie genauso mürrisch wie sein merkwürdiger Führer. Begegnete er jedoch ihren Blicken, fand er dort weder Verachtung noch Ablehnung, wie er halb erwartet hatte, sondern nur entschlossenen Ernst.
Während sie durch den Gang marschierten, bemerkte er, dass die dunkelbraunen Schotten reich verziert waren, ebenso wie die geschwungenen Türrahmen und die Intarsien aus hellerem Holz. Zumeist zeigten die Schnitzereien fliegende Kreaturen, Vögel, Insekten oder Fabelwesen aus den Legenden. Das Holz wirkte alt und glatt, wie auch die Deckplanken, die sich unter seinen Füßen weich und abgeschliffen anfühlten. All das sprach dafür, dass die
Sturmklaue
ein sehr, sehr altes Schiff war.
Kurz darauf erreichte Qothan eine breite Tür aus glänzendem, roten Holz, in dem Silber- und Perlmuttintarsien ein merkwürdiges Muster bildeten, das entfernt an einen Kreis aus Augen erinnerte.
»Das ist das Orakel«, erklärte er. »Es wird für die Meditation und Kontemplation benutzt. Unter anderem.« Er stieß die Tür auf, und sie traten ein. Das Orakel war eine runde Kammer mit zwölf Nischen, welche in die Wände eingelassen waren. Hölzerne Säulen trennten die Alkoven und verjüngten sich zu schlichten Sparren, die in der Mitte der niedrigen, gewölbten Decke zusammenliefen. Deren zwölf Segmente waren mit lebhaften Szenen bemalt. Der Boden war gefliest und ebenfalls in zwölf Abschnitte unterteilt. In der Mitte erhob sich ein Podest, auf dem ein regungsloser, bärtiger Mann in einer langen, grauschwarzen Robe auf einem von vier prachtvollen Stühlen saß. Er beobachtete die Eintretenden, während sich die Tür leise hinter ihnen schloss. Das muss Agasklin sein, dachte Ondene.
»Seid gegrüßt, Qothanalorimundas«, sagte der Mann und stand auf, als sie sich ihm näherten. »Wie ich sehe, war Eurem Ausflug Erfolg
Weitere Kostenlose Bücher