03 - Tod im Skriptorium
verlangst du wirklich ein Wunder von mir.«
Colgú nickte.
»Ja, König Cathal und ich verlangen ein Wunder von dir, Fidelma. Wenn Männer und Frauen all ihren Mut, ihr Wissen und ihre Klugheit einsetzen, dann sind sie dazu fähig, Wunder zu vollbringen.«
»Dennoch bürdet ihr mir große Verantwortung auf«, stellte sie fest. Sie wußte, daß sie sich nicht gegen diesen Auftrag zu entscheiden vermochte. »Ich werde tun, was ich kann. Heute nacht ruhe ich mich in Cashel aus. Ich hoffe, daß morgen der Sturm nachläßt. Sobald es hell wird, breche ich nach Ros Ailithir auf.«
Colgú lächelte erfreut.
»Und du reist nicht allein, kleine Schwester. Wie du sagst, ist der Weg nach Südwesten beschwerlich, und wer weiß, welche Gefahren dich in Ros Ailithir erwarten? Ich gebe dir einen meiner Krieger mit.«
Fidelma zuckte gleichgültig die Achseln.
»Ich kann mich allein verteidigen. Du vergißt, daß ich mich in der Kunst des troid-sciathagid , der Selbstverteidigung, geübt habe.«
»Wie könnte ich das vergessen?« lachte Colgú. »Oft genug hast du mich in unserer Jugend im waffenlosen Kampf besiegt. Aber freundschaftlicher Kampf ist eine Sache, Fidelma, ernsthafter Waffengang eine andere.«
»Das brauchst du mir nicht zu erklären, Bruder. Viele unserer Missionare, die in die Reiche der Sachsen oder der Franken gehen, lernen diese Methode der Selbstverteidigung, um ihr Leben schützen zu können. Sie hat mir schon gute Dienste geleistet.«
»Trotzdem muß ich darauf bestehen, daß dich einer meiner erprobten Krieger begleitet.«
Fidelma nahm es gelassen.
»Ich folge deinem Auftrag, Bruder. Du bist hier der tánaiste , und ich verfahre entsprechend deinen Wünschen.«
»Dann sind wir uns einig.« Colgú klang erleichtert. »Ich habe schon einen Mann dafür abgeordnet.«
»Kenne ich den Krieger, den du ausgewählt hast?«
»Du bist ihm bereits begegnet«, erwiderte ihr Bruder. »Es ist der junge Krieger, der vorhin Forbassach hinausgeworfen hat. Er heißt Cass und gehört zur Leibwache des Königs.«
»Ach, der mit dem Lockenkopf?« fragte Fidelma.
»Ja, der. Er ist mein Freund, und ich würde ihm nicht nur mein Leben anvertrauen, sondern auch deines.«
Fidelma lächelte schalkhaft.
»Genau das tust du, Bruder. Wieviel weiß Cass von meinem Auftrag?«
»So viel, wie ich dir davon sagen konnte.«
»Du vertraust ihm also«, stellte Fidelma fest.
»Willst du mit ihm sprechen?« fragte ihr Bruder.
Sie schüttelte den Kopf und unterdrückte ein plötzliches Gähnen.
»Wir haben Zeit genug zur Unterhaltung an den drei Tagen, die wir bis Ros Ailithir brauchen. Jetzt würde ich ein heißes Bad und Schlaf vorziehen.«
K APITEL 3
Es war keine angenehme Reise durch die weiten Täler und über die hohen Bergketten von Muman. Wenn auch der Sturm am zweiten Tag nachgelassen hatte, so hatte sich doch der Boden unter dem unaufhörlichen Regen in einen Morast verwandelt, klammerte sich an den Hufen und Fesseln ihrer Pferde wie mit angstvollen Händen fest und hemmte ihren Schritt. Die Talsohlen und Grasebenen waren sumpfig und teilweise überflutet, so daß sie sie kaum durchqueren konnten, jedenfalls nicht zügig. Der Himmel sah grau verhangen und drohend aus und ließ keinen Strahl der hellen Herbstsonne durch, die düsteren Wolken hingen immer noch so niedrig wie Bergnebel. Auch der ab und zu durch die fast blattlosen Baumwipfel heulende Wind vermochte dieses Leichentuch nicht zu zerreißen.
Fidelma fror und fühlte sich elend. Das war kein Reisewetter. Wäre die Angelegenheit nicht so dringend gewesen, hätte sie nie daran gedacht, solch einen Ritt zu unternehmen. Sie saß steif auf ihrem Pferd und spürte die Kälte bis ins Mark trotz des schweren Wollmantels und der Kapuze, die normalerweise den eisigen Griff der unwirtlichen Temperaturen abhielten. Selbst in ihren Lederhandschuhen wurden ihre Hände, die die Zügel führten, gefühllos.
Schon mindestens eine Stunde hatte sie nicht mehr mit ihrem Begleiter gesprochen, seit sie in dem Gasthaus an der Straße ihr Mittagsmahl eingenommen hatten. Sie hielt den Kopf gegen den kalten Wind gesenkt und konzentrierte sich darauf, ihr Pferd auf dem schmalen Pfad zu lenken, der den steilen Berg vor ihnen hinaufführte.
Vor ihr ritt Cass, der junge Krieger, ebenso in einen schweren Wollmantel mit Pelzkragen gehüllt; er saß mit betont guter Haltung im Sattel. Fidelma lächelte grimmig in sich hinein und fragte sich, wieviel ihm daran lag, vor ihrem
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