03 - Tod im Skriptorium
holte, drehte sich um und sah, wie Schwester Necht sie anstarrte.
»Kennst du das?« fragte sie die junge Novizin schnell und hielt den Stab ins Licht.
Necht schüttelte sofort den Kopf.
»Es war … nein, ich dachte, es wäre etwas anderes. Ich hab mich geirrt. Ich hab ihn noch nie gesehen.«
Fidelma hielt noch ihren Fund in der Hand, als ihr Blick auf den kleinen Tisch neben dem Bett fiel. Mit der freien Hand hob sie die darauf stehende Öllampe hoch. Sie war schwer und offensichtlich gut gefüllt.
Sie ging zur Tür, wo die anderen standen.
Noch einmal schaute sie ins Zimmer, langsam und gründlich ließ sie ihre Blicke durch den Raum wandern.
Es war eine dunkle Zelle. Es gab nur ein kleines Fenster, hoch in der Mauer über dem Bett, durch das offenbar sehr wenig Licht fiel. Das Fenster war nicht nur klein, sondern ging auch nach Norden. Das Licht, überlegte sie, müßte kalt und grau sein. Wollte man in diesem Zimmer arbeiten, mußte es ständig beleuchtet werden. Sie wandte sich um und untersuchte die Tür. Hier gab es nichts Ungewöhnliches, kein Schloß und keinen Riegel, nur die übliche Klinke.
»Brauchst du mich noch für irgend etwas, Schwester?« fragte Bruder Conghus. »Es wird Zeit für mich, zur Completa zu läuten.«
Die Completa war die siebente und letzte Gottesdienststunde des Tages.
Fidelma riß ihren Blick widerstrebend vom Zimmer los und schaute Conghus an.
»Nur noch eins, Conghus. Die Streifen Leinentuch, mit denen Dacán gefesselt war, wie du sagst – was ist aus denen geworden?«
Conghus zuckte die Achseln.
»Das weiß ich nicht. Ich nehme an, der Arzt hat sie entfernt. Ist das alles?«
»Du kannst jetzt gehen«, stimmte sie zu. »Doch vielleicht will ich später noch einmal mit dir sprechen.«
Conghus eilte davon.
Fidelma schaute die Novizin an.
»Nun, Schwester Necht, kannst du mir den Arzt suchen, hieß er nicht Bruder Tóla?«
»Den Unterarzt? Natürlich«, antwortete die Novizin und wollte sich schon auf den Weg machen.
»Warte!« Fidelma schmunzelte über ihren Eifer. »Wenn du ihn gefunden hast, bring ihn sofort hierher zu mir. Ich warte auf ihn.«
Die junge Schwester flitzte rasch davon.
Fidelma untersuchte die Einkerbungen in dem Espenholzstab.
»Was bedeuten sie?« fragte Cass neugierig. »Kannst du die alte Schrift lesen?«
»Ja. Verstehst du Ogham?«
Cass schüttelte bedauernd den Kopf.
»Das alte Alphabet habe ich nie gelernt, Schwester.«
»Dies scheint eine Art Testament zu sein. Aber es ergibt nicht viel Sinn. ›Möge mein süßer Vetter für meine Söhne auf dem Felsen Michaels sorgen, wie es mein ehrenwerter Vetter bestimmen wird.‹ Merkwürdig.«
»Und was soll das heißen?« fragte Cass.
»Erinnerst du dich, was ich über das Sammeln von Einzelheiten sagte? Es ist, als würdest du Zutaten für ein Gericht sammeln. Hier findest du etwas und dort etwas, und wenn du alles beisammen hast, beginnst du zu kochen. Leider haben wir noch nicht alle Zutaten. Aber ein bißchen mehr wissen wir schon, zum Beispiel, daß es ein sorgfältig geplanter Mord war.«
Cass starrte sie an.
»Sorgfältig geplant? Die Heftigkeit des Angriffs deutet eher darauf hin, daß der Mörder in wilder Wut handelte, in einem plötzlichen Zornesausbruch und nicht vorsätzlich.«
»Vielleicht. Aber der alte Mann wurde nicht in einem plötzlichen Zornesausbruch an Händen und Füßen gebunden. Das hier sieht nach Vorsatz aus. Doch was versetzte den Mörder in solche Wut? Ein Fremder, ob Mann oder Frau, der wahllos zustach, konnte kaum eine solche Wut aufstauen.«
Sie schwieg plötzlich, als sei ihr etwas eingefallen.
»Was ist?« drängte Cass, als er merkte, daß sie mit den Gedanken woanders war. Sie blickte stirnrunzelnd in das Zimmer. Schließlich ging sie wieder hinein und stellte die Öllampe auf den Schreibtisch, so daß sie den Raum erleuchtete.
»Ich wollte, ich wüßte es«, gestand sie zögernd. »Ich spüre, daß an diesem Zimmer irgend etwas nicht in Ordnung ist und daß mir das auffallen müßte.«
K APITEL 6
Bruder Tóla, der Unterarzt der Abtei, hatte silbergraues Haar und weiche, angenehme Züge, und er lächelte beständig, als mache er sich über das Leben lustig. Fidelma erinnerte sich, daß die meisten Ärzte und Ärztinnen, denen sie begegnet war, die Tragödien des Alltags mit ironischem Humor betrachteten. Vielleicht, schloß sie, wehrten sie sich damit gegen ihre fortwährende Berührung mit dem Tode, vielleicht hatte sie gerade die Erfahrung
Weitere Kostenlose Bücher