03 - Tod im Skriptorium
wurde sie in Abt Broccs Zimmer gerufen.
»Kusine, ich schicke heute nachmittag einen Boten nach Cashel. Möchtest du eventuell die Gelegenheit nutzen, deinem Bruder eine Botschaft zu übermitteln?«
Fidelma wollte schon verneinen, als ihr ein Gedanke kam.
»Ja. Ich möchte, daß mein Bruder mit dem Obersten Brehon in Verbindung tritt, damit dieser veranlaßt, daß Assíd von Uí Dego, der Kaufmann aus Laigin, zu der Ratsversammlung vorgeladen wird, wenn sie über den Tod Dacáns verhandelt. Es ist wesentlich, daß Assíd einige Fragen gestellt werden.«
»Assíd? Der Kaufmann, der sich in der Nacht, in der Dacán ermordet wurde, in der Abtei aufhielt?« Hoffnung trat in Broccs Blick. »Meinst du, daß Assíd … meinst du, daß er es gewesen sein könnte …?«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Ich möchte nur, daß er bei der Verhandlung anwesend ist.«
Broccs Miene wurde wieder sorgenvoll.
»Ach, ich dachte, wenigstens ein Rätsel sei gelöst.«
»Ein Rätsel?« Die Nuance war Fidelma nicht entgangen.
»Ich habe erfahren, daß du gestern abend nach Schwester Grella gesucht hast?«
»Das stimmt. Was ist mit Schwester Grella geschehen?« fragte sie voll trüber Ahnungen.
»Ich wollte, ich wüßte es. Seit gestern kurz nach der Vesper ist Schwester Grella nicht mehr gesehen worden. Heute morgen wurde die Bibliothek nicht geöffnet, und Bruder Rumann berichtet mir, daß es kein Anzeichen dafür gibt, daß sie in ihrem Zimmer geschlafen hat. Er erkundigte sich bei Bruder Conghus, und der erklärte ihm, daß du gestern abend nach ihr gefragt hast.«
Fidelma ließ sich vor dem Tisch des Abts nieder, bevor sie fortfuhr. »Ist sie früher schon einmal verschwunden?«
»Nicht, soweit ich weiß«, antwortete der Abt. »Das alles ist sehr belastend, Kusine. Erst wird Dacán tot aufgefunden, dann Schwester Eisten, und nun wird Schwester Grella vermißt. Wie soll ich das alles verstehen?«
Einen Augenblick tat Fidelma ihr Vetter leid. Er wirkte wie ein verlorenes, hilfloses Kind, das jemanden braucht, der ihm sagt, was es tun soll.
»Ich wünschte nur, ich könnte dir helfen, Brocc. Im Moment bin ich ebenso ratlos wie du. Aber es gibt ein paar Dinge, die ich dich fragen möchte und die absolut vertraulich bleiben müssen.«
Der Abt schwieg erwartungsvoll.
»Weißt du etwas über Bruder Midachs Vorleben?«
»Bruder Midach?« fragte Brocc überrascht. »Er ist ein guter Arzt. Er ist seit vier Jahren in Ros Ailithir. Warte mal … er kam aus der Abtei Cealla zu uns.«
»Und Schwester Necht?«
»Sie ist seit ungefähr sechs Monaten in der Abtei.«
»Ist sie auch aus Cealla?«
»Nein. Wie kommst du darauf? Ich glaube, sie stammt aus einem Dorf nicht weit von hier. Warum fragst du sie nicht selbst?«
»Es kam mir nur so in den Sinn. Ich dachte, es bestünde irgendeine Verbindung zwischen Midach und Necht.«
»Nun, er hat sie in die Abtei eingeführt, das ist richtig. Er behandelte ihren kranken Vater, und als ihr Vater starb und sie als Waise zurückließ, schlug Midach vor, sie hier als Novizin aufzunehmen. Ich glaube, er ist ihr Seelenfreund.«
Fidelma seufzte. Sie fragte sich, ob das alles auch irgendwie mit Osraige zu tun hatte. Was es genau sein könnte, dessen war sie sich nicht sicher, aber Osraige war bestimmt der Mittelpunkt all der Geheimnisse, davon war sie inzwischen überzeugt.
Der Abt drang nicht weiter in sie. »Wie soll ich das alles verstehen?« wiederholte er beinahe kläglich.
Fidelma war nun klar, daß sie nicht ohne Schwester Grella weiterkam, wenn sie nicht einen ganz neuen Weg beschritt. Das bedeutete, einiges von dem, was sie in Erfahrung gebracht hatte, als Köder preiszugeben.
»Wußtest du, daß Schwester Grella früher einmal die Frau des Ehrwürdigen Dacán war?« fragte sie unschuldig.
Abt Brocc klappte der Unterkiefer herunter.
»Was sagst du da? Hat sie dir das selbst anvertraut?«
»Ich habe es von jemand erfahren, der sie in Laigin kannte. Du wußtest es also nicht?«
»Ich wußte nur, daß sie aus Cealla kommt und den Grad einer sai besitzt. Aber daß sie die frühere Frau des Ehrwürdigen Dacán ist … Bist du dir da ganz sicher?«
»Ich habe einen Zeugen dafür. Gestern abend habe ich ihr Zimmer durchsucht. Das Recht dazu habe ich«, fügte sie eilig hinzu, als sie Broccs gekränkte Miene bemerkte. »Dacán wurde gefesselt, bevor er getötet wurde. Die Fesseln wurden zum Glück von Bruder Martan, dem Apotheker, aufgehoben. Gestern abend fand ich den Rock, von dem
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