030 - Die Teufelshexe
Etwas heiser, seltsam hoch — die Stimme hatte fremdartig geklungen, einen Akzent gehabt — und nachträglich spürte er noch, daß er sich beim Klang dieser Stimme sehr unbehaglich gefühlt hatte.
Aber er konnte sich das natürlich alles nur einbilden. Seine Nerven waren überreizt. Es war ja auch wirklich sehr hart gewesen, was er da auf dem Friedhof erlebt hatte. Nach dem Begräbnis seines Vaters, als er mit seinem Bruder die Mutter weiterführte, war sie ihm buchstäblich unter seinen Händen ermordet worden.
Diese schwarzverschleierte Frau war vermutlich völlig harmlos. Warum die Polizei immer wieder auf diese Fremde zurückkam, wußte Lothar auch nicht. Schwarzverschleierte Frauen waren auf Friedhöfen häufig anzutreffen.
Doch die Grausamkeit, seiner Mutter das Ohr abzuschneiden, nachdem sie schon tot war, fand immer noch keine Erklärung bei ihm. Das war nicht die Tat eines Menschen, einer menschenähnlichen Kreatur. Es war die Tat eines Ungeheuers, eines Teufels.
Oder, falls die schwarzverschleierte Frau etwas damit zu tun hatte: Es war die Tat einer Hexe, einer Teufelin, die sich von allem menschlichen Empfinden losgesagt hatte.
Um ein Haar wäre er vor einen Bus gelaufen, wenn hilfreiche Hände ihn nicht zurückgerissen hätten.
»Halt, Sie wollen wohl die Radieschen von unten besehen?« fragte jemand jovial.
Wie erwachend blickte Lothar Griesewald hoch und murmelte ein Dankeschön.
Der hatte eine Vision gehabt.
Die Vision einer schwarzverschleierten Frau. Jetzt fiel ihm auch ein, daß sie schiefgetretene Absätze gehabt hatte. Und ihre Haltung hatte ihn sekundenlang fasziniert. Sie sah aus, als ob sie auf schwerfällige Weise schwebte.
Dort drüben auf der anderen Straßenseite ging eine schwarzverschleierte Frau.
Lothar versuchte ruhiger zu werden. Er hatte gerade an die merkwürdige Fremde vom Friedhof gedacht und sah zufällig eine schwarzverschleierte Frau. Da glaubte er natürlich Zusammenhänge zu sehen. Aber sie hatten nichts zu bedeuten.
Lothar starrte hinüber. Die Frau entfernte Sich in Richtung der Marktgasse.
Und ihr Gang war irgendwie losgelöst von der Erde, obwohl sie ziemlich feste, große Schritte machte.
Lothar begriff nur sehr langsam, daß er sich nicht täuschte, daß er haargenau die Fremde vor sich hatte, nach der die Polizei ihn so ausfragte.
Lothar stürzte — obwohl die Ampel noch Rot zeigte — auf die Fahrbahn. Räder quietschten, Bremsen heulten auf. Lothar achtete nicht darauf.
»Ein Selbstmörder«, murmelten die Leute. »Fast wäre er unters Auto gekommen’...«
Lothar Griesewald hatte die andere Straßenseite erreicht. Die Autofahrer, die so heftig hatten bremsen müssen, schimpften hinter ihm her. Und da ereilte Lothar das Schicksal in Gestalt eines Verkehrspolizisten.
»Sind Sie von allen Geistern verlassen?« schnauzte er Lothar an. »Auch Fußgänger müssen sich nach den Verkehrsregeln richten. Name? Adresse?«
Lothar hörte gar nicht hin.
Noch konnte er die schwarzgekleidete Frau sehen, doch sie entfernte sich schnell.
»Lassen Sie mich«, murmelte er, »ich bin in Eile...«
»Wir auch! Wir sind alle in Eile«, sagte der Beamte. »Werden Sie mir jetzt Ihren Namen nennen? Ich muß nämlich einen Strafzettel zuschicken.«
»Lothar Griesewald, Bechsteinweg 18«, erwiderte der junge Mann mit monotoner Stimme. Er hatte den Polizeibeamten noch kein einziges Mal angeblickt.
»Stimmt das auch? Haben Sie einen Personalausweis?« fragte der Polizist.
»Jetzt ist sie weg«, stieß Lothar hervor. Und wirklich: Mitten auf der Marktgasse hatte die Frau sich in Luft aufgelöst.
Wie im Trance reichte Lothar dem Beamten seinen Personalausweis. Dann endlich durfte er weiter, erhielt aber noch den Hinweis, daß er eine gepfefferte Strafgebühr zahlen müßte.
Lothar jagte die Marktgasse entlang.
Etwa dort, wo die Frau verschwunden war, blieb er stehen. Er sah an den hohen Mietshäusern hoch.
Wohnte sie in einem dieser Häuser? Sie sahen alle ziemlich baufällig aus. Und zwei waren sogar schon zum Abbruch vorgemerkt, wie ein großes Schild der Stadtverwaltung verriet.
Ich hätte sie beinahe gehabt, dachte Lothar erschöpft. Aber ist es nicht besser, ich habe sie nicht aufgespürt?
Er spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken jagte. Wenn sie wirklich die Mörderin seiner Mutter war, dann würde sie auch vor ihm nicht haltmachen, wenn er sie überführen wollte.
Langsam ging er weiter. Er war kein Held, und er wollte überleben. Noch jetzt
Weitere Kostenlose Bücher