031 - Der Puppenmacher
Fenster.
»Alina!« kam es krächzend über seine rotglühenden Lippen.
Coco begriff nicht sofort.
»Es ist alles wieder in Ordnung, Phillip«, sagte sie beruhigend und versuchte, ihn auf das Kissen zurückzudrücken.
»Die Dämonen können den magischen Kreis nicht überwinden – noch nicht.«
Doch da sah sie, wie eine der magischen Formeln wie von Zauberhand ausgelöscht wurde. Schnell ergriff sie den Mauerbrocken und zeichnete eine neue Formel auf die freie Stelle im Kreis. Die Antwort war ein wütendes Schimpfen, das aus den düsteren Winkeln und anderen Unterschlupfen der Quälgeister kam.
»Versuche zu schlafen!« sagte Coco und drückte Phillip wieder aufs Bett.
Aber er stemmte sich gegen sie und rief voller Verzweiflung wieder den gleichen Namen: »Alina!« Und nochmals: »Alina!« Dabei wies seine zitternde Hand aufs Fenster.
Jetzt erst erkannte Coco, daß er ihr ein Zeichen geben wollte. Sie versuchte nicht, Phillip zu befragen, denn aus der Überlieferung wußte sie, daß Hermaphroditen nicht in der Lage waren, klare Antworten zu geben. Das hatten schon die alten Griechen gewußt und für die Hermaphroditen den Begriff Orakel geprägt.
Coco erhob sich und ging zum Fenster. Aber als sie durch die Scheibe blickte, konnte sie nichts Außergewöhnliches entdecken.
»Alina! Komm, komm! Laß Alina herein!« forderte Phillip verzweifelt.
Coco blickte zu ihm hin. Er wand sich wie unter Schmerzen; aber diesmal waren es nicht die Dämonen, die ihn quälten, sondern sein Schmerz war ein ganz anderer.
Zögernd öffnete Coco das innere Fenster. Als sie wieder zu Phillip blickte, wirkte er schon gelöster. Sie hatte ihn also richtig verstanden. Er wollte, daß sie das Fenster öffnete.
Ohne länger zu überlegen, öffnete sie auch einen der beiden äußeren Fensterflügel. Ein kühler Luftzug schlug ihr entgegen; und mit der kühlen Brise kam ein winziges Geschöpf ins Zimmer. Es sprang vom Fensterbrett, rannte quer durchs Zimmer und verschwand unter Phillips Bettdecke.
Als Coco mit drei langen Sätzen sein Bett erreichte, traute sie ihren Augen nicht. Phillip schien in tiefem Schlaf dazuliegen; sein Gesichtsausdruck war entspannt, um seine vollen Lippen spielte ein seliges Lächeln. Und seine Hände hielten liebevoll eine fußgroße Puppe. Aber es war keine gewöhnliche Puppe, kein Spielzeug aus Plastik und Stoff, sondern ein lebendes Wesen; ein Mädchen mit blondem Haar und Augen, die wie Diamanten funkelten, wohlproportioniert und mit einem wunderschönen Gesicht – nur eben dreißig Zentimeter groß.
»Bist du Alina?« erkundigte sich Coco verwirrt.
Als Antwort wurde sie von der Puppe angefaucht.
Coco zuckte zurück, als sie die zwei Reihen schwarzer Zähne erblickte. Sie fröstelte. Ein kalter Lufthauch strich ihr über den Nacken, und sie wurde sich bewußt, da das Fenster immer noch offenstand.
Sie schickte sich an, es zu schließen. Doch da kamen schon weitere Puppen durch das Fenster. Drei – vier – fünf – es waren insgesamt sechs Puppen, die vom Fensterbrett ins Zimmer sprangen. Jede von ihnen hatte ein kurzes Röckchen und ein enganliegendes Oberteil an; beides war mit Flitter besetzt.
Bevor Coco ihre erste Überraschung überwinden konnte, hatten die Puppen sie erreicht. Die erste biß in ihre Wade. Coco ging mit einem Schmerzensschrei in die Knie. Dann sprangen die anderen fünf Puppen zu ihr hinauf. Sie verbissen sich mit ihren schwarzen Zähnen in ihrem Nacken, in ihren Oberarmen und in ihrer Brust.
Coco schwindelte. Sie spürte, wie eine bleierne Müdigkeit sie überkam. Das Zimmer drehte sich um sie, und dann hörte sie das Krachen, als ihr Körper auf dem Boden aufschlug. Schmerz verspürte sie keinen. Ihr letzter Gedanke, bevor sie das Bewußtsein verlor, war: die Zähne der Puppen sind vergiftet!
Es war nicht viel später, als sich die Tür öffnete und der Puppenmacher hereintrat. Er blickte sich um und nickte zufrieden.
»Brav, meine Puppen! Sehr brav!«
Er ging zu Coco und lud sie sich auf die Arme. Die sechs Puppen scharten sich wie gut gedrillte Zinnsoldaten um seine Beine. Nur die siebte Puppe, die in Phillips Händen Schutz gesucht hatte, rührte sich nicht.
»Willst du schon wieder unfolgsam sein, meine widerspenstige Puppe?« fragte der Puppenmacher mit sanftem Tadel in der Stimme.
Die Alina-Puppe erschauerte.
Der Puppenmacher starrte sie mit stechenden Augen an. Die Puppe reckte sich, Phillips Finger verstärkten den Druck; aber sie wand sich aus
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