0312 - Mumienfluch
ihrer eigenen Stimme hörte, war der Schrei bereits abrupt abgebrochen und in ein haltloses Wimmern übergegangen.
Denn die Berührung auf ihrer Schulter war so kalt wie das Grab.
Gwendolyn sank in die Knie. Alle Kraft war aus ihrem Körper gewichen.
Sie wagte nicht, sich umzudrehen, weil sie dem Tod nicht ins Gesicht sehen wollte.
In den Fingern, die sich um ihren Nacken legten, war nicht die Wärme des menschlichen Körpers. Die Finger, die jetzt über ihre Haut fuhren, waren wie uraltes, morsches Holz, das aus den Schneewüsten von Alaska kommt.
Ihr Weg war zu Ende.
Die Mumie hatte sie erreicht…
***
Der gellende Schrei riß Michael Ullich aus seinem Tiefschlaf. Mit einem Satz war er von der harten Pritsche des Wächterhauses aufgesprungen.
Neben ihm fuhr Carsten Möbius empor. Während Michael Ullich sich die Lederscheide mit dem Schwert an einem Trageriemen über die Schulter warf und mit einer fließenden Bewegung das Gewehr durchlud, rollte Carsten Möbius die Peitsche aus.
Die beiden Jungen sahen sich an. Jetzt ging es los. Kein Zweifel, daß die unheimliche Gestalt aus dem Grabe aktiv geworden war.
Warum eine Frau geschrien hatte und wo sie herkam, interessierte jetzt nicht. Mit wenigen Schritten hatten sie das Wachhaus im Tal der Könige verlassen, das in unmittelbarer Nähe des Tut-anch-Amun-Grabes liegt.
»Der Schrei kam von dort!« wies Carsten Möbius in die Richtung, wo sich die Straße zum Ausgang des Tales schlängelte.
»Dann mal ran an den Feind!« sagte Michael Ullich und spurtete los. Carsten Möbius verzichtete auf seinen üblichen Vortrag über die Gesundheitsschädlichkeit des Laufens und galoppierte hinterher. Es gelang ihm sogar, mit dem Freund einigermaßen Schritt zu halten.
Doch plötzlich bremste der Junge mit dem Blondhaar ab und hielt Carsten Möbius mit ausgestrecktem Arm zurück.
»Das sind sie!« sagte er und wies mit dem Gewehr in seiner Rechten auf die zwei Gestalten, die in der Schwärze der Nacht kaum auszumachen waren. Der leise Nachtwind trug das unartikulierte Gestammel einer Frau herüber, die den Tod hinter sich wußte.
»Von weitem sieht die Mumie aus wie ein Gerippe!« sagte Carsten Möbius.
»Und sie handelt auch wie ein Skelett, das durch die Macht des Bösen zum Leben erwacht ist!« sagte Michael Ullich dumpf. »Das Mädchen hat keine Chance mehr - wenn das hier nicht hilft!«
Dabei hob er das Gewehr an die Wange. Carsten Möbius hörte das leise, metallische Geräusch, als er den Sicherheitsbügel der Waffe umlegte. Er wußte, daß sein Freund ein vorzüglicher Schütze war. Aber bei Nacht auf diese Entfernung zu treffen war so eine Sache.
Und es war die Frage, ob die Kugel gegen die Gestalt aus dem Totenreich Wirkung zeigen würde…
***
Interessiert beobachtete Leonardo de Montagne aus seinem Refugium in der Hölle, wie die Mumie ihre dürren Finger um Gwendolyns Hals legte. Er war davon so fasziniert, daß er nicht erkannte, daß Michael Ullich und Carsten Möbius in der Nähe waren.
Der Dämonenfürst hörte das Angstgewimmer der Amerikanerin, die zu den kalten Sternen aufblickte als hoffe sie, daß von dort oben Rettung käme.
Nur wenige Sekunden, dann war ihr Leben beendet. Leonardo spürte, wie die Hände der Mumie sich wie eine seelenlose Maschine schlossen.
In diesem Moment erkannte Leonardo de Montagne, daß Gwendolyn Wilson nicht sterben durfte. Noch nicht.
Er wollte die Mumie nicht nur unter seinen Willen zwingen sondern ihr auch ein Leben in der Form geben, daß sie ihm Nutzen bringen konnte.
Dazu benötigte er Blut, das aus einem lebendigen Körper entströmte. Und ein pulsierendes Herz, das der vertrockneten Substanz der Mumie es erst ermöglichte, wirklich wieder aktiv zu werden. Dann konnte Leonardo ihr Befehle erteilen wie seinen Skelettkriegern, die sonst seine Aufträge durchführten und seine Befehle vollstreckten. Die Mumie des Nefru sollte so werden wie der mongolische Krieger mit dem schwarzen Schwert, der in seinem Auftrag den Tod über Menschen brachte, die Leonardo im Wege standen. Oder jener Hexenmeister Magnus Friedensreich Eysenbeiß von der Sekte der Jenseitsmörder. Die Mumie des Nefru sollte die dritte Schreckensgestalt neben seinem Feuerthron in der Hölle werden.
Leonardo erhob sich. Er mußte handeln, so lange das Leben noch im Körper des Mädchens pulsierte. Er streckte beide Arme nach oben und zischte ein einziges Wort. Wirbelnde Strömungen auf Feuersturm und flüssiger Magma ergriffen ihn und rissen
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