0316 - Das Todeslied der Unterwelt

gemerkt hatte. Ich fand die kaum spürbare Erhöhung und drückte. Lautlos schwang die Tür nach innen. Wir traten hindurch. Ein Kellner in einem erstklassigen Frack drückte mir wortlos ein in rotes Leder gebundenes Buch in die Hand. Ich nickte, als hätte ich nichts anderes erv/artet.
    Der Raum war wenigstens zwanzig mal dreißig Yard groß. In der Mitte gab es eine kreisförmige Erhöhung, ein Podium, das nur aus Spiegelglas bestand. Im Augenblick zeigte ein schwarzhaariges Mädchen dort etwas, was Witzbolde »Schönheitstanz« getauft haben. Wir hielten Ausschau nach einem freien Tisch und fanden mühelos einen.
    Ich knipste die kleine Taschenlampe an und schlug das Buch auf. Vorn war eine Speisekarte. Danach kam eine Getränkekarte. Die Preise rissen mich fast in eine Ohnmacht. Damit konnte man eine Party für zwölf durstige Junggesellen bestreiten, wofür man hier gerade die billigste Flasche Wein bekam.
    Phil stieß mich an. Er hatte bereits weiter geblättert. Und jetzt zeigte sich erst der eigentliche Inhalt des Buches. Auf jeder folgenden Seite gab es vier Fotos von einem Mädchen. Die Fotos waren eindeutig. Und die Texte dabei, die witzig sein sollten, auch. Insgesamt waren vierundzwanzig Mädchen mit je vier verschiedenen Bildern verewigt. Sie stammten aus allen Ländern der Welt. Ich klappte die Schwarte zu. Nun gab es keinen Zweifel mehr. Gordons Material war echt. Ein tollkühner Bursche hatte heimlich Aufnahmen aus dem Buch gemacht. In den Akten hatte ich es nicht glaüben wollen, was ich sah. Nun sah ich das Buch selbst.
    »Komm, 'Phil«, sagte ich. »Hier ist mir jeder Cent zu schade.«
    »Was darf ich servieren?« fragte ein Kellner hinter mir. »Welche Gesellschaft wäre Ihnen angenehm?«
    Ich stand auf. Am liebsten hätte ich etwas erwidert, das er auswendig lernen konnte. Aber wir wollten die Burschen ja nicht warnen.
    »Wir sind gleich wieder da«, rief ich hastig. »Wir haben die Mäntel im Wagen gelassen. Und das ganze Geld liegt drin!«
    Ich glaube, ich brachte es sogar fertig, ein bißchen erschrocken auszusehen.
    »Sie haben den Wagen hoffentlich nicht vor dem Lokal stehen?« fragte der Kellner mitfühlend.
    Ich nickte betrübt.
    »Doch!«
    »Dann ist höchste Eile angeraten, Sir! Wenn Sie mir diesen Rat gestatten!«
    Wir waren ihm sogar dankbar dafür. Mit dem roten Buch, das der Kellner mir gegeben hatte, ging ich hinaus.
    Phil kam rasch hinter mir her. Die beiden Riesen an der Metalltür sahen uns mißtrauisch an.
    »Ich habe den Wagen nicht abgeschlossen«, keuchte ich.
    »Und dabei liegen unsere Mäntel mit den Brieftaschen drin!« rief Phil verzweifelt.
    »Soll ich mitkommen?« bot einer der Hünen eifrig an.
    »Wenn das Geld schon weg ist, können Sie uns auch nicht helfen«, sagte ich.
    Das leuchtete ihnen ein. Sie spähten durch ein kleines Loch in der Wand neben der Tür und ließen uns hinaus, als der Flur leer war. Aufatmend setzten wir unsere Hüte auf, die uns die kleine Chinesin trotz unserer Eile noch gebracht hatte. Ich zog mein Jackett auf und zeigte Phil das rote Buch.
    »Beweismittel Nummer eins«, sagte ich stolz.
    Wir gingen durch den Flur zurück ins Lokal. Der Betrieb hatte noch nicht abgenommen. Der Wirt zapfte Bier am laufenden Band. Der Kellner stand dummerweise in der Nähe der Tür. Ich zog Phil am Rockärmel zu einem Tisch, an dem zwei Stühle frei waren. Jetzt konnten wir ruhig für ein paar Minuten so tun, als wären wir gerade erst ‘reingekommen.
    Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis es mir gelang, den Kellner auf uns aufmerksam zu machen. Er sah uns an. Ich war sicher, daß er uns sofort wiedererkannt hatte, aber er verriet es mit keiner Bemerkung.
    Wir bestellten Whisky, obgleich ich von vornherein wußte, daß mir die Gläser nicht sauber genug sein würden. Als der Kellner ihn brachte, bestätigte sich meine böse Ahnung. Wir zahlten. Als ich das Wechselgeld in die Hosentasche schob, schlenderte ein junger Bursche nahe an uns vorbei zu der Tür, die nicht nur zu den Toiletten führte.
    »Hallo, Sammy«, rief er dem Kellner zu.
    Im Gesicht des Obers zuckte es.
    »Guten Abend, Sir«, sagte er. Aber er kaute es heraus, als ob er lieber etwas weniger Höfliches gesagt hätte. Und da hatte ich einen Einfall.
    ***
    Es war Punkt 9 Uhr, als es an die Officetür klopfte. Phil lächelte mir zu, als ich »Herein« rief. Wie wir erwartet hatten, trat Duff Gordon über die Schwelle. Er trug weiche Flanellhosen von hellgrauer Farbe, ein blaues, einreihiges