0316 - Das Todeslied der Unterwelt
Jackett mit Goldknöpfen und eine rote Fliege mit kleinen weißen Pünktchen. Hatte er gestern wie ein Handelsvertreter ausgesehen, so wirkte er heute ein bißchen unbestimmt nach Künstlertyp.
»Guten Morgen«, sagte er. »Ich hoffe, daß ich pünktlich bin.«
»Auf die Minute«, erwiderte ich und stand auf. »Wir wollen uns hier nicht erst häuslich niederlassen, Mr. Gordon. Im Vertrauen darauf, daß Sie pünktlich sein würden, haben wir uns für 9 Uhr beim Chef zum Vortrag angemeldet. Wir würden uns freuen, wenn Sie dabei wären.«
Gordon stutzte. Er zögerte einen Augenblick, zuckte aber die Achseln und fügte sich mit einem schweigenden Nicken. Wir machten uns auf den Weg. Daß meine Jacke auf der linken Seite stark ausbeulte, lag an einem Buch, das in rotes Leder gebunden war.
Der Chef empfing uns sofort. Er begrüßte Mr. Gordon und bat ihn, Platz zu nehmen. Dann erst wandte er sich an uns.
»Mr. Gordon ist mir aus einer Zeit bekannt, als ihr beide noch nichts mit dem FBI zu tun hattet«, sagte er lächelnd. »Mr. Gordon war nämlich ein hoher Offizier im Geheimdienst während des zweiten Weltkrieges.«
»Daher«, grinste Phil. »Jetzt verstehen wir manches besser.«
»Ja?« fragte der Chef. »Daraus schließe ich, daß euch Mr. Gordon eine Überraschung bereitet hat. Leider fehlte mir gestern die Zeit, eingehend mit Mr. Gordon zu sprechen. Ich ließ ihn an euch verweisen, weil ich wußte, daß er bei euch an der richtigen Adresse sein wird. Ich hoffe, daß ich mich nicht getäuscht habe?«
Die letzte Frage war an Gordon gerichtet. Der Versicherungsdetektiv zuckte die Achseln.
»Es wird davon abhängen, was Mr. Cotton und Mr. Decker jetzt zu sagen haben. Ich mußte ihnen bis heute früh Zeit geben, über gewisse Dinge nachzudenken.«
»Stimmt, Chef«, nickte ich. »Ich will es kurz machen. In die Einzelheiten können wir zu gegebener Zeit noch gehen.«
»Wie Sie wollen, Jerry«, meinte Mr. High. »Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich gespannt, was jetzt kommen wird. Natürlich hängt es irgendwie mit der Western Insurance zusammen?«
»Entfernt, ja«, gab ich zu. »In erster Linie hängt es wohl mit dem Strafgesetzbuch zusammen, und ich fürchte, der Zusammenhang erstreckt sich auf so viele Paragraphen, daß kaum einer aus dem Strafgesetzbuch nicht strapaziert zu werden braucht, Aber kommen wir zur Sache!«
Wir hatten uns eingeteilt, wer über was zu referieren hätte. Phil machte den Anfang.
»Gestern morgen besuchte uns Mr. Gordon zum ersten Male, gestern abend zum zweiten Male in Jerrys Wohnung. Dabei ließ er uns Material zurück, das wir prüfen sollten. Das Material ist nicht vor Gericht zu gebrauchen. Was aber wird in diesem Material eigentlich behauptet? — Die Rede ist ständig von einem gewissen Tim O. Georgeton. Ein angesehener Bürger dieser Stadt —«
»Ein Gangster übelsten Stils!« rief Gordon aufgebracht dazwischen.
Phil ließ sich nicht irritieren. »Besitzer einer großen Textilfabrik und mehrerer kleinerer Betriebe und Geschäfte«, fuhr er ungerührt fort. »In dem von Mr. Gordon vorgelegten Material ist er eher ein Hehler, ein Dieb, ein Mörder, ein Erpresser, ein Betrüger — es gibt kaum eine kriminelle Bezeichnung, die nicht auf Georgeton zutreffen soll. Mr. Gordon hat uns freiwillig und unaufgefordert sein Material überlassen. Wir haben es auf seinen Wunsch hin gründlich studiert. In der Hauptsache werden die folgenden Beschuldigungen vorgebracht…«
Phil warf mir einen auffordernden Blick zu. Ich zog meinen Notizzettel und fing an.
»Erstens: Georgeton unterhält vier Häuser, die man nur mit Kenntnis geheimer Klopfzeichen und ebenso geheimer Schlüsselsätze betreten kann. Dort gibt‘s Mädchen. Neunzig Prozent dieser Mädchen stammen aus armen Einwandererfamilien.«
»Nummer zwei«, sagte Phil. »Georgeton besitzt über einen vorgeschobenen Strohmann im Hafen mehrere Verladefirmen. Alle dort ankommenden Waren werden gegen Feuer und Diebstahl bei der WI versichert. Georgeton läßt nun von einer Bande, die er organisiert haben soll, in die Lagerschuppen und -hallen einbrechen, wertvolle Ware stehlen und dafür die Versicherungssummen einkassieren, obgleich die Waren ja noch immer in seinem Besitz sind.«
»Nummer drei«, fügte ich hinzu. »Georgeton besitzt, ebenfalls unter vorgeschobenem Strohmann, eine kleine Druckerei im Norden Manhattans. In dieser Druckerei werden Seefrachtbriefe gedruckt und gefälscht, mit deren Hilfe die angeblich gestohlenen Waren
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