0322 - Das Fratzengesicht
Kästen und Lagern. Tagsüber unsichtbar, zeigten sie sich nur in der Nacht, und eigentlich hatten sie schon von altersher zu einem Schiff gehört wie der Steuermann oder der Kapitän.
Die Ratten waren überall.
Braungraue Nager, schwere Körper. Tiere, die überleben würden, wenn es die Menschen schon längst nicht mehr gab. Geschöpfe, die alles anknabberten, was ihnen in den Weg kam. Neuerdings fraßen sie sogar Kunststoff.
Ratten hatten vor nichts Angst, sie machten vor nichts halt.
Dennoch flohen sie, wie vom Teufel getrieben, und sprangen in wuchtigen Sätzen an der Bordwand hoch. Diejenigen, die es beim ersten Versuch nicht schafften, nahmen so lange einen neuen Anlauf, bis es ihnen gelang, den Rand zu erreichen.
Was hatte die Ratten so erschreckt? Weshalb flohen sie in solcher Panik? Da mußte es einen Grund geben! Über ihn dachte auch der Mann nach, der bewegungslos auf dem Deck lag und abwarten wollte, bis die Ratten das Schiff verlassen hatten.
Manche hatten es dabei so eilig, daß sie nicht einmal auf ihn Rücksicht nahmen und über seinen Körper hinwegliefen.
Sehr bald schon tanzten sie auf der Reling und dem Schanzkleid.
Ein unheimliches Gewimmel von Körpern, die sich gegenseitig stießen, berührten, drückten, die kratzten und bissen.
Dann verschwanden sie.
Einige nur sprangen direkt ins Wasser. Der Mann auf dem Deck hörte die Aufschläge. Er wußte, daß die Tiere dem Ufer entgegenpaddeln würden, aber das störte ihn nicht. Auch nicht die Tatsache, daß die Ratten das sinkende Schiff verließen. Er wollte etwas ganz anderes, und vielleicht erreichte er sein Ziel noch in dieser Nacht.
Lange genug hatte er schließlich darauf hingearbeitet.
Der Mann wartete so lange, bis er sicher sein konnte, keine Ratte mehr an Deck zu finden. Dann stemmte er sich langsam in die Höhe. Er warf einen Blick über die Reling hinweg, schaute zum Ufer hin und erkannte, daß sich die Taue wellenförmig bewegten. Die Ratten verließen das Schiff. Nicht das sinkende, aber auch so kam der Aberglaube voll auf seine Kosten.
Für einen Moment glaubte der einsame Passagier auf dem Deck der Dschunke, am Ufer Gestalten zu sehen. Er war sich nicht sicher.
Zudem verschwanden die Gestalten auch sehr schnell wieder.
Der Mann war beruhigt. Er hatte scharfe Augen und schaute für einen Moment zu, wie die Ratten versuchten, an der Ufermauer hochzuklettern. Sie wuchteten sich dabei aus dem Wasser, sprangen gegen den Kai, rutschten wieder ab, versuchten es erneut, denn eines war sicher: Aufgabe kannten diese Geschöpfe nicht.
Der einsame Mann ging ein paar Schritte nach hinten. Er lehnte sich gegen den Mast des großen Mattensegels. Es war gerefft. Kurz vor dem Auslaufen würde es die Mannschaft setzen, damit dieses Schiff auf das Meer hinaussegeln konnte. Bis das allerdings geschah, wollte der Mann seine Aufgabe erledigt haben.
Das Mondlicht fiel auf die Dschunke. Auch der einsame Passagier wurde getroffen. Sein Schatten fiel auf die Planken und nahm durch die Unebenheiten eine bizarre Form an.
Der Mann war kein Chinese. Er gehörte einer anderen ethnischen Gruppe an. Aus Asien stammte er wohl, weiter südlich, von einem gewaltigen Subkontinent, der den Namen Indien trug.
Dieses Land hatte viele bedeutende Menschen hervorgebracht.
Ghandi und Nehru gehörten zu ihnen, auch die Gestalt auf dem Boot war etwas Besonderes.
Hochgewachsen, kräftig. Ein Kämpfertyp, wie er in manchen Abenteuerfilmen zu sehen war. Pechschwarz das Haar, asketisch geschnitten das Gesicht, eine sehr hohe Stirn, dunkle Augen, die einen harten, manchmal auch sehr weichen Ausdruck bekommen konnten.
Auf dem Kopf trug der Mann einen kunstvoll und siebenmal geschlungenen Turban von schwarzgrauer Farbe. Sein Markenzeichen.
Dieser Mann war schon zu seinen Lebzeiten eine Legende. Er gehörte zu den Menschen, die den Mächten der Finsternis den Kampf angesagt hatten. Seine Feinde waren die gefährlichen Götter Asiens, die Sekten, die menschenmordenden Tongs, Monster und Dämonen.
Wer so beschrieben wurde, für den gab es eigentlich nur einen Namen.
Mandra Korab!
Aus einem alten Maharadscha-Geschlecht stammend, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, das Böse auf der Welt zu bekämpfen.
Dabei konzentrierte er sich besonders auf den asiatischen Raum. Zu seinen größten Feinden gehörte die indische Totengöttin Kali. Gegen sie und ihre Diener hatte er schon oft genug gekämpft, doch das war momentan für ihn nicht aktuell. Ihn hatte ein anderer
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