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wusste, ihre nette, nachgiebige Haltung war nur eine List. „Es ist bald Zeit zum Mittagessen. Willst du nach unten gehen?"
Am liebsten hätte sie ihn geohrfeigt, damit er aufhörte, so selbstzufrieden zu lächeln. Sie wollte ihn loswerden, aber nicht mit ihm in den Speisesaal gehen und seine liebevolle Gattin spielen.
„Ich bin müde und nicht sehr hungrig", antwortete sie, und das war keine Lüge.
In den letzten Nächten hatte sie wenig Schlaf gefunden, weil sie gezwungen war, das Bett mit Mr. Cordeil zu teilen. Anfänglich hatte sie von ihm verlangt, er solle im Sessel schlafen oder sich eine andere Kabine besorgen. Er hatte sie jedoch nur ausgelacht. Vor Wut war sie rot geworden, nachdem er ihr erklärt hatte, sie habe nichts zu befürchten. Er habe nicht die Absicht, im Bett etwas anderes zu tun, als zu schlafen. Ungeachtet der Tatsache, dass er seine Behauptung wahr gemacht und nicht wieder versucht hatte, Reina zu nahe zu kommen, waren ihre Nerven allein durch den Umstand, neben ihm liegen zu müssen, angespannt gewesen. In jeder Nacht hatte sie stundenlang wach gelegen, bis sie endlich in unruhigen Schlaf verfallen war.
„Ich werde in die Kabine gehen und mich eine Weile ausruhen. Geh allein zum Essen."
Clay betrachtete Miss Alvarez einen Moment und bemerkte zum ersten Mal, dass sie dunkle Schatten unter den Augen hatte. Jäh bekam er Gewissensbisse, gegen die er indes sogleich ankämpfte. „Soll ich dich nach unten begleiten?" Er wollte sie am Arm ergreifen, doch sie entzog sich ihm.
„Ich komme zurecht. Aber vielleicht sorgst du dich, ich könnte vom Schiff springen und an Land schwimmen."
„Dieser Gedanke ist mir einige Male gekommen", gab er zu. Als sie ihn flüchtig anschaute, lächelte er ein weiteres Mal spöttisch. „Wir sehen uns später."
Rasch entfernte sie sich von ihm, wusste jedoch, dass er sie beobachtete. Sie war froh, als sie den Gang vor den Kabinen erreicht und sich Mr. Cordells Sicht entzogen hatte. Es war ein schönes Gefühl, seiner sie bedrückenden Nähe entronnen zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Zu ihrer Überraschung sah sie sich plötzlich Mr.
Webster gegenüber.
„Guten Tag, Mrs. Cordell", äußerte er strahlend, begeistert, sie zu sehen. Seit dem Zwischenfall beim Abendessen hatte er keine Gelegenheit mehr gehabt, mit ihr zu reden, und sie sehr vermisst.
„Wie schön, Sie wieder zu sehen, Michael", begrüßte sie ihn herzlich.
„Auch ich freue mich, Sie zu sehen, Madam", erwiderte er von ganzem Herzen. Er fand sie wundervoll.
Sie war sich seiner Gefühle für sie bewusst. Daher war ihr klar, dass sie nur auf ihn setzen konnte, um Hilfe bei der Flucht zu haben. Die Vorstellung, ihn aus eigennützigen Gründen benutzen zu müssen, behagte ihr nicht, aber einen anderen Weg gab es nicht.
„Ich würde mich gern mit Ihnen irgendwo ungestört unterhalten, Michael."
„Ungestört?" Der Vorschlag überraschte ihn. Der Gedanke jedoch, eine Weile mit ihr allein zu sein, war das Risiko wert, sich den Zorn ihres Gatten einzuhandeln. „Nun, äh, ich teile meine Kabine mit drei anderen Männern. Daher weiß ich nicht, wohin wir gehen könnten."
Sie schaute sich um und berührte dann mit einer Geste, die Vertraulichkeit andeuten sollte, seinen Arm. Sie zog ihn zum Ende des Korridors, wo es einen Winkel gab,
der der Sicht eines sich im Gang aufhaltenden Passagiers entzogen war. Sie war sich nicht gewahr, dass jemand um ihrer beider Anwesenheit wusste.
„Mein Mann ist zum Essen gegangen. Daher sind wir eine Weile unter uns."
„Ja, Madam."
„Es gibt etwas Wichtiges, Michael, um das ich Sie bitten möchte. Können Sie mir einen Gefallen tun?"
Michael war hingerissen. Er vermochte nicht zu glauben, dass Mrs. Cordell etwas von ihm wollte. Das Herz schlug ihm zum Zerspringen. Wiewohl er wusste, dass die Situation für ihn gefährlich werden konnte, weil Mrs. Cordell verheiratet war, ließ sein tief verwurzeltes Empfinden für Ritterlichkeit es nicht zu, ihr die Bitte von vornherein abzuschlagen.
„Selbstverständlich", willigte er sofort ein.
Sie merkte, dass er aufgeregt und erwartungsvoll war. Ihr war klar, dass sie keine Schwierigkeiten haben werde, ihn sich gefügig zu machen, so Leid ihr das auch tat.
Er war ein netter Mensch, die Art Mann, der im Gegensatz zu Mr. Cordell sofort auf ein Hilfeersuchen seitens einer in Nöte geratenen Frau einging. Sie musste ihn nur noch davon überzeugen, dass ihr angeblicher Gatte sie schlecht behandelte. Sobald ihr
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