0333 - Drei Herzen aus Eis
Zeit grau geworden war.
Er griff zum Spaten. Für einen Moment zögerte er noch. Sein Blick glitt über das Grab hinweg und traf das dahinterliegende Buschwerk.
Da sah er was.
Der Mann schien in der Bewegung einzufrieren. Er schüttelte erst später den Kopf, und über seine Lippen drang ein Stöhnlaut, der auch von den anderen gehört wurde.
»Was ist los?« fragte jemand.
Der Mann hob den Arm. Die Bewegung konnte man als ungelenk bezeichnen. Sie drückte zudem das aus, was er empfand. Unbehagen, gesteigert bis zur Angst.
»Da!« flüsterte er. »Ich habe sie genau gesehen. Da sind sie…«
Ein Jüngerer sprang hinzu und stützte den Sprecher. »Was hast du da gesehen?«
»Die Augen!« hauchte der Grauhaarige. »Die Augen…«
»Mach jetzt keinen Unsinn. Da ist niemand.«
Der Ältere drehte den Kopf. »Sie gehören auch zu keinem Menschen«, wisperte er. »Nein, das waren keine menschlichen Augen.«
Seinem Helfer blieb nichts weiter übrig, als die Schultern zu heben, denn er hatte nichts gesehen, doch der Alte wollte sich nicht davon abhalten lassen.
Er schaute selbst nach. Bevor es jemand verhindern konnte, hatte er sich bereits gelöst, lief an der linken Seite des Grabes entlang und hatte Mühe, über die Kränze zu steigen.
»Wo willst du hin?« rief ein anderer.
Der Jüngere drehte sich um. »Salan hat etwas gesehen. Ein Augenpaar, meint er.«
»Ja, das stimmt!« rief Salan, ohne sich umzudrehen, kletterte über die letzten Kränze und drückte die feuchten Zweige des Buschwerks zur Seite.
Wie ein Schatten tauchte er ein. Hinter ihm schlugen die Zweige wieder zusammen, so daß er den Blicken der anderen Trauergäste entschwand.
Die wunderten sich. Plötzlich war nicht mehr der Tote interessant, sondern Salan, der wie ein Spuk verschwunden war.
»Wir müssen nachsehen«, sagte jemand.
»Er wird den Tod seines Freundes wohl nicht überwunden haben und sieht jetzt Gespenster«, meinte ein anderer.
Der Ansicht waren die meisten.
Bis sie den Schrei hörten.
So furchtbar und grauenvoll, daß ihnen fast das Blut in den Adern gefror. Ihre Gesichter wurden noch bleicher, sie schauten sich an, ballten die Hände, bewegten die Lippen, ohne daß sie etwas sagen konnten. Zu tief saß der Schock.
Und noch immer zitterte der Schrei. Er drang aus den Büschen wie ein Trompetenstoß, und er endete schließlich in einem schweren Ächzen.
Danach war es still.
Sekunden der Ruhe, des Entsetzens. Niemand fand den Mut, etwas zu unternehmen.
Einige Menschen bekreuzigten sich.
Schließlich faßten sich die ersten ein Herz. Es waren die Musiker, die nachschauen wollten und ihre Instrumente ablegten.
Sie brauchten es nicht, denn Salan war zu sehen. Aber nicht er allein.
Was die Trauergäste in den nächsten Sekunden erlebten, ließ sie glauben, in einem Horrorfilm mitzuspielen, so schaurig, grauenhaft und unbegreiflich war es.
Von einer nahezu unheimlichen Gestalt wurden die Zweige des Buschwerks zur Seite gedrückt. Sie knickten weg, sie rissen ab und vor den entsetzten Trauergästen stand eine menschengroße Ratte, in deren Maul der leblose Körper des alten Salan hing…
Aus einigen Wunden tropfte Blut. Es vermischte sich mit dem Regen und wurde in das offene Grab hineingespült. Das aber sahen die Menschen nicht, ihre schockgeweiteten Augen waren auf das mutierte Tier gerichtet, das tatsächlich die Größe eines Menschen besaß und die anderen Leute aus haßerfüllten und gleichzeitig gierigen Augen anstarrte.
Mordlust funkelte den Entsetzten entgegen. Ein jeder wußte, daß die Ratte noch nicht genug hatte.
Sie setzte zum Sprung an.
Die Stimme einer schreienden Frau kippte über. »Weeggg!« brüllte sie.
»Verdammt, wir müssen weg!«
Es war das Zeichen.
Einen geordneten Rückzug konnte es nicht geben, dafür waren die Beteiligten zu sehr geschockt. Panik und Angst bestimmten ihr Handeln.
Jetzt war es von Nachteil, daß es so sehr geregnet hatte und die Erde naß und feucht geworden war. Der Lehm wurde zur Rutschbahn. Die Menschen konnten sich nicht so gut halten. Einige rutschten aus und kippten gegen andere, die diesem Aufprall nicht standhalten konnten, dabei sehr nahe an den Grabrand gerieten und nur zum Teil Glück hatten, daß sie nicht in das feuchte Loch fielen.
Die Ratte sprang.
Sie streckte ihren Körper in der Luft, so daß er so groß wirkte wie ein Panther. Und sie sprang höher als die Flüchtenden, setzte dann auf und begrub einige unter sich. Die gellenden Angstschreie
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