0339 - Walpurgisnacht
noch nicht völlig geschwunden war. »Das nächste Mal mietet ihr euch einen Wagen, in dem man auch hinten die Beine strecken kann, verstanden?«
»Du hättest ja auch im Hotel bleiben können«, erinnerte Zamorra.
Möbius hüllte sich in Schweigen. Vor ihnen tauchte die Okertalsperre auf. Sie waren über Altenau gefahren, weil das der breit ausgebauten Harz-Heide-Straße wegen schneller ging als über Göttingerode und Oker. An der Stelle, wo in der vergangenen Nacht das magische Netz verbrannt war, war nichts mehr zu sehen. Die Abzweigung nach Clausthal-Zellerfeld kam, und dann tauchte einer der verzweigten »Arme« der Talsperre auf. Der BMW rollte über die Brücke auf die andere Seite des Sees.
»Nach links«, dirigierte Möbius. »Dann kommt nach, höchstens einem halben Kilometer die Abzweigung nach Schulenberg.«
Nicole nickte und lenkte den Wagen in die angegebene Richtung.
»Früher lag Schulenberg unten im Tal«, sagte Möbius, »wo jetzt die Talsperre ist. Die Leute haben sich teilweise sehr lange gesträubt, mußten dann aber doch dem Sachzwang weichen. Das neue Schulenberg wurde oben am Berghang gebaut. Aber wenn die Talsperre Niedrigwasser hat, kann man, wie es heißt, noch die Dächer der Häuser von Alt- Schulenberg und den Kirchturm sehen. Ich selbst hab’s ja leider bisher noch nicht erleben können. Aber man erzählt sich so einiges. Auch, daß man die Kirchenglocke von Alt-Schulenberg läuten hören soll, wenn Gefahr droht. Dabei ist gerade das Humbug – in der Kirchturmruine gibt’s keine Glocke mehr. Die ist damals schon geborgen worden, als man das Dorf aufgeben mußte.«
Zamorra lächelte. Er kannte Erzählungen dieser Art zur Genüge.
Manchmal war tatsächlich etwas daran, manchmal auch nicht.
»Hat wenigstens einer der Starrköpfigen, die es ja immer gibt und die nicht weichen wollen, einen Fluch ausgesprochen?«
»Davon ist mir nichts bekannt«, gestand Möbius. »Aber man kann ja nicht alles wissen, nicht wahr?«
»Wie wahr, wie wahr… da fängt das Dorf an«, sagte Nicole, die inzwischen den Wagen auf die Nebenstraße gebracht hatte. Schulenberg erwies sich als langgestrecktes Straßendorf, schmal angelegt und der einzigen vielfach gewundenen Straße folgend. Eine Menge Leute waren unterwegs, zu Fuß, per Fahrrad oder per Auto.
»Die wollen wahrscheinlich alle zum ›Tanz in den Mai‹«, vermutete Nicole.
»Oder zu den Walpurgisfeiern hier oder dort.«
»Das dürfte eher für die Touristen reizvoll sein«, wandte Möbius ein.
»Also für uns«, grinste Zamorra. »Sollte mich gar nicht wundern, wenn unsere Hexe bei einer dieser Veranstaltungen mitmacht.«
»Hm.«
Nicole hatte andere Probleme. »Soweit sind wir. Wie aber finden wir jetzt Hoffachs Haus?«
»Leute fragen«, entschied Zamorra. »Halt mal an, ich frage…«
Er kurbelte die Seitenscheibe herunter, während Nicole den Wagen an den Straßenrand lenkte. Aber ein Erwin Hoffach war namentlich nicht bekannt. Die Alteingesessenen pflegten gesellschaftlich unter sich zu bleiben.
»Himmel, es muß doch einer wissen, ob hier in letzter Zeit jemand ein Haus gekauft hat und wo das steht, verflixt noch mal«, schimpfte Zamorra.
»Vielleicht wollen die Leute auch gar keine Auskunft an Fremde geben«, gab Möbius zu bedenken. »Du mußt das entweder polizeioffiziell oder privatfamiliär anfangen!«
»Hast du noch ein paar von deinen selbsterfundenen Wörtern greifbar, möglichst lang und umständlich?«
»Du hast kein Sprachgefühl, Zamorra«, klagte Möbius.
»Ich bin auch kein Sprachwissenschaftler, sondern Parapsychologe.«
Schließlich bequemte sich jemand, Auskunft zu geben, daß ein Haus, das vor vielleicht zwei Monaten den Besitzer gewechselt hatte, am Ende des Ortes lag, also erfreulicherweise in Fahrtrichtung. »Es ist das zweitletzte Haus. Aber ob der neue Besitzer Hoffach heißt, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Meinen Sie den Hoffach, der heute in der Zeitung stand?«
»In der Zeitung? Wieso?«
»Na, da hat’s eine wilde Sache gegeben, oben beim Wasserfall. Zwei Polizisten brutal niedergeschlagen, einen Polizeiwagen geklaut… und das als Geschäftsführer in einem Kaufhaus drüben in Zellerfeld. Toll, was? Wenn das Ihr Mann ist, dann haben wir ja eine traurige Berühmtheit im Dorf!«
»Dann ist das Stammtischgesprächsthema ja wieder mal gerettet«, brummte Möbius, als sie weiterfuhren.
Das fragliche Haus war verdunkelt. »Scheint niemand zu Hause zu sein«, sagte Nicole. Sie fuhr den BMW
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