0341 - Die Nadel der Cleopatra
Zeit etabliert hatten. »Dort ist Shao verschwunden.«
»Willst du noch einmal in das Lokal zurück?«
»Nein, wir erledigen das hier.«
Der Meinung war ich auch. Durch den Wetterumschwung und den böigen Wind, der die Kronen der Bäume schüttelte, war es ziemlich ungemütlich geworden. Aus diesem Grunde sahen wir auch keine Menschen vor den Lokalen sitzen. Die Gäste hatten sich samt und sonders in die Kneipen verzogen.
Bis zu unserem Ziel mußten wir noch einige Schritte laufen. Der Wind fuhr in unsere Gesichter. Er schleuderte Staub und Blätter hoch. Auch Papierfetzen wirbelten durch die Luft, die er wie mit gierigen Händen aus übervollen Abfallkörben geholt hatte.
Ein Wechselspiel aus Grau und Schwarz lief am Himmel ab, der mond- und sternenlos war.
Cleopatra’s Needle konnten wir einfach nicht übersehen. Sie stach vor uns in den Himmel wie ein langer, sich nach oben hin verjüngender Finger. Ein Monument, das zahlreiche Touristen anzog, auch wegen der beiden die Nadel einrahmenden steinernen Löwen mit den Frauengesichtern. Die Sphinx hockten auf Steinsockeln. Unbeweglich. Stumme, gefährliche Wächter.
Auch die Nadel stand auf einem stufenartig abgeteilten Sockel aus hellem Stein. Rechts und links des Unterbaus führte eine Treppe hoch. Von dort aus konnte man auch auf den Sockel klettern und sich den unteren Teil der Nadel aus der Nähe anschauen.
Das taten wir.
Suko von der linken, ich von der rechten Seite. In der Ferne schimmerten die Lichter der Waterloo Bridge. Ich schaute auch über die Themse hinweg. Ihr Wasser wirkte in der Dunkelheit wie eine schwarze Brühe, durch die hin und wieder hellere Schaumstreifen flossen.
Der Obelisk selbst besaß noch ein Grundfundament. Es war glatt.
Die eingemeißelten Schriftzeichen begannen erst danach. Wegen der Dunkelheit konnte ich sie nur mehr erahnen.
Ich hatte eine starke Taschenlampe mitgenommen, schaltete sie ein und ließ den Strahl an der Nadel in die Höhe wandern.
Jetzt sah ich die Schriftzeichen deutlicher. Es waren die normalen.
Die anderen, die gefährlichen befanden sich weiter oben, wo die Nadel sich zu einer Spitze verengte. Bis dahin reichte der Strahl nicht.
Ich faßte das Gestein an.
Völlig harmlos. Keine Wärme gab es ab, wie man es oft bei Dingen erlebt, die magisch aufgeladen sind.
Einmal ging ich um die Nadel herum und traf auf Suko, der vor der Sphinx stand und auf sie schaute.
Er blickte starr gegen das Gesicht mit den steinernen Zügen.
Deutlich war zu erkennen, daß es sich bei dem Kopf um ein Frauengesicht handelte.
Übergroß, starr. Im Laufe der Zeit hatte es Patina angesetzt. Hinzu kam die Umweltverschmutzung, die ebenfalls für erste Zerstörungen gesorgt hatte, denn als wir mit den Händen über die Nasen faßten, spürten wir, daß der Stein bröckelte und zwischen unseren Fingern zu Sand wurde.
»Wenn wir noch ein paar Jahre warten, fallen sie von allein auseinander«, meinte Suko.
»Soviel Zeit haben wir leider nicht.«
Ich entfernte mich von meinem Partner und schaute mir die Sphinx an meiner Seite an.
Es war das gleiche Bild. Auch hier hatte der verdammte saure Regen genagt. Gesehen hatten wir genug. Jetzt mußten wir herausfinden, ob Ed Fisher mit seinen Vermutungen recht behalten hatte.
Wir waren natürlich nicht ohne seine Aufzeichnungen losgefahren. Der Hefter steckte in der Innentasche meines Mantels. Ich holte ihn hervor und schlug ihn auf.
Sofort fuhr der steife Wind in die Seiten und schlug sie auf. Suko hielt sie fest.
»Warte noch einen Augenblick«, bat ich ihn, ging zurück und stellte mich so auf die Treppe, daß die Nadel vor mir in die Höhe wuchs. Die Straße befand sich jetzt in meinem Rücken.
Sie stand wie eine Eins.
Nichts deutete auf eine Gefahr hin, die sie möglicherweise bringen konnte. Wir ließen uns nicht täuschen. Die Nadel konnte ein schreckliches Geheimnis bergen, das lange geschwiegen hatte und erst jetzt zum Durchbruch gekommen war.
Auch Sukos Gesicht zeigte eine gewisse Spannung. Sicherlich dachte er dabei an seine Freundin Shao, die in den gefährlichen Kreislauf mit hineingeraten war.
Er nickte mir zu. »Willst du lesen?«
»Ja.«
Zum Glück brauchten wir keine ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern. Ed Fisher hatte sie schon übersetzt. Ich begann damit die Worte zu sprechen, wobei ich gegen den Wind anrief.
»Als die Schwingen der Nacht die Sonne verdunkelten, brach die Zeit der Finsternis an. Aus den Reichen der Unendlichkeit strömte die Weisheit
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